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Nostalgie mit „Schnucki“

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„Oh Rose von Stambul“ - was hatte doch dieser Leo Fall für brillante Einfälle und wie raffiniert wußte er sie zu instrumentieren! Man sollte Altbekanntes nicht nur mitsummen, man sollte da einmal genauer ins Orchester hineinhören, es steht dafür.

Leo Fall pflegte seine Melodien den ratlosen Librettisten vorzuspielen und dazu teüs Blödeleien, teils Verbalinjurien zu improvisieren. Aufgabe der „Dichter“ war es dann, publikumswirksame, also möglichst primitive Verse zu erfinden und drum herum eine ebenso publikumswirksame, also gemäßigt schwachsinnige Handlung zu bauen. Die bewährte Firma Bram- mer & Grünwald brachte das fast immer zuwege, sie vergaß auch nie den erfolgsträchtigen Bezug auf die Aktualität. 1916 war das die Achse Wien- Konstantinopel, das Bündnis öster- reich-Ungams mit dem Osmanischen Reich. Alle Welt sang 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, „Oh Rose von Stambul“.

„Oh Rose von Stambul“ singt man jetzt wieder im Raimundtheater. Natürlich spielt das Raimundtheater Raimundtheater. Aber das ist bei weitem nicht so schlecht, wie böse Wiener einander einreden wollen. Schon der Taxilenker, dem ich das Ziel der Fahrt nannte, glaubte, mich warnen zu müssen. Er irrte. Die Aufführung hat immerhin Schwung, vom Auftrittslied der Kondja Gül bis zum Fridolin, dessen Schnurrbart sticht, von der aktschließenden Feststellung, daß es unbedingt ein Walzer sein müsse bis zur definitiven Weigerung, „Schnucki“ zu sagen. Ich habe mich sehr gut unter halten, mag sein allerdings, daß ich nostalgisch voreingenommen bin.

Im Jahre 1916 nämlich setzte sich jene Dame, die ich als Kind „Tante Ulli“ nannte, ans Klavier und sang „Geh, sag doch Schnucki zu mir!“ Mich, den Vierjährigen, hatte sie neben sich aufgepflanzt und ich mußte die Antwort krähen: „Ein Bussi geb ich dir. Nein, aber Schnucki, Schnucki sag ich nicht.“ Der Erfolg unseres Duetts muß ein durchschlagender gewesen sein, denn andernfalls hätte ich mir den Unsinn nicht bis zum heutigen Tage gemerkt. „Tante Ulli“, vormals als Ulli Kaiser Star des Linzer Landestheaters, war damals längst schon Baronin und betrat nur noch gnaden- und wohltätigkeitshalber die Bühne. (Wäre sie beim Theater geblieben, die große Fritzi Massary hätte es schwerer gehabt.) Aber „Tante Ulli“ war auch noch als Baronin die witzigste und originellste Person zwischen Linz und Bad Ischl. Ihre boshaften Aussprüche machten als Zitate die Runde. Sie überlebte später das KZ Theresienstadt. Heimgekehrt in den ovalen Salon des kleinen Barockpalais an der Linzer Landstraße, verbrachte sie ihre letzten Jahre, alles verstehend, alles verzeihend, mit der milden Grazie einer gealterten Fürstin.

Zwischen der „Rose von Stambul“ des Jahres 1916 und der „Rose von Stambul“ im Raimundtheater des Jahres 1977 liegt ein Abgrund der Zeit, liegen namenloses Leid und Wiederstehen. Deshalb sage ich nie wieder „Schnucki“. Oder dennoch?

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