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Öffentlich sterben

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„Und ein Mann namens Jörg Mauthe, wer immer das war, begibt sich ans Sterben.“

Er starb öffentlich wie keiner vor ihm seit Menschengedenken in diesem Land. Seit Juli 1985 sagte er allen, daß er sterben würde. In vielen Zeitungen konnte er datumsmäßig unmotivierte Würdigungen lesen: Nachrufe zu Lebzeiten. Im Wiener Gemeinderat hielt er eine veritable Vermächtnisrede. Sein Begräbnis arrangierte er als Generalstabsplan.

Gesellschaftsvoyeure befriedigte er mit Briefen an Prominente, die nach seinem Tod verschickt — und im „Wiener Journal“ veröffentlicht wurden: „J.ch bitte Dich, an meiner Bestattung nicht teilzunehmen...“

Das Heulen und Zähneknirschen der Betroffenen wollen wir nicht zum Ausgangspunkt der Überlegung machen, ob Mauthes öffentlich zelebriertes Sterben geschmackvoll war. Da gehe am besten ein jeder von uns mit sich selbst ins Gericht und überlege, ob wir nicht längst alle solche Briefe schreiben müßten — an Freunde, ohne Veröffentlichung.

Aber die Frage jener, die keine Opfer von Mauthes aus dem Grab gerecktem Zeigefinger geworden sind, sei wohl bedacht: Ist Sterben nicht etwas Intimes, Personales, Einzigartiges, das die Beschwörung von Medienöffentlichkeit zur Obszönität werden läßt?

Die oft schamlose Zerstörung von Privatheit durch Zeitungs- und Fernsehhaie in unseren Tagen verführt stark zu einer Bejahung dieser Frage. Und doch...

Solange neun von zehn Menschen die Wahrheit, daß Sterben das Wichtigste in unserem Leben ist, verbissen verdrängen; solange selbst Ärzte sich um die Bejahung einer tödlichen Krankheit durch Selbstbetrug herum-zuschwindeln versuchen; solange Patienten und deren Angehörigen oft der Todescharakter einer Krankheit verschwiegen wird; solange Menschen, die sich Christen nennen, durch Tabuisierung des Themas Tod ihr ganzes Christsein verraten: Solange dies alles Regelfall in unserer Gesellschaft ist, muß man einem Menschen danken, der den Mut hat, uns sein Sterben öffentlich vorzuleben.

Jörg Mauthe hat durch seine Art ohnehin verhindert, daß dergleichen ein zweites Mal ohne Peinlichkeit bald wiederholbar wäre. Aber einmal, endlich einmal, hat es uns allen gut getan.

,Jch glaube nicht, daß ich an ein Leben nach dem Tod glaube“, sagte er, und fügte hinzu: „Aber lachen tat' ich schon, wenn...“

Um die Gnade dieses Lachens, Jörg Mauthe, haben wir für Dich gebetet.

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