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Weg mit den Alten?

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In einer Zeit, in der in Österreich soeben von Regierungs wegen verlautet wurde, die Hochschullehrer sollten mit dem erreichten 65. Lebensjahr so wie die Politiker ihren Platz räumen, weil gewöhnlich nach diesem Zeitpunkt die Leistungsfähigkeit abnimmt, wirkt diese Autobiographie eines nahezu hundert Jahre alt Gewordenen wie krasser Anachronismus. Handelt es sich doch bei dem 1970 verstorbenen Bertrand Russell um einen Mathematiker und Philosophen, der die letzten 25 Jahre seines Lebens nicht in der Eremitage, sondern als Kämpfer für den Weltfrieden und die atomare Abrüstung inmitten der Beatgeneration verbracht hat In diesem seinen letzten Lebensabschnitt realisierte Bertrand Russell die jetzt geläufige These des Fortschritts, wonach Gewalt, die dem Fortschritt dient, zulässig, Gewalt, die sich gegen den Fortschritt richtet, aber Verbrechen und Krieg ist. Im Fortschritt der Ereignisse konnte Bertrand Russell mehrmals dieses Prinzip exemplifizieren:

1914, bei Ausbruch des ersten Weltkrieges, hoffte er auf den Sieg über den preußischen Militarismus und unterstützte daher den Krieg; das Jahr darauf wandte er sich ebenso entschieden gegen das Kriegführen seiner britischen Landsleute. Nach 1939 hielt er den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland für gerecht und überraschte damit die Nazis, die noch 1942 die offizielle Version verlauteten, ihnen sei diese Gegnerschaft nach allem, was vorher gewesen war, ganz unerwartet gekommen. 1949 wieder setzte sich Bertrand Russell für einen amerikanischen Präventivkrieg ein, der Rußland zwingen sollte, den Wünschen des Westens nachzugeben; sobald Rußland über genügend Atombomben verfügte, ging er endgültig ins Lager der Kriegsgegner über.

Trotzdem legt man diese Autobiographie nicht mit dem Eindruck aus der Hand, der Verfasser sei eben nach den Erfahrungen eines Lebens außerordentlich versativ geworden. Bertrand Russell mußte nur zuletzt einsehen, daß man jetzt „alte Ideale für belanglos hält“ und „keine neue Lehre respektiert, die nicht rauh und hart ist". Da wird Freiheit als Schwäche angesehen und Toleranz gezwungen, die Tracht des Verrates anzulegen. In den letzten Zeilen der Autobiographie zeigt der Verfasser seine innigste Rechtfertigung auf: Er strebte nach der Vision, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Individuen in Freiheit heranwachsen und Haß, Gier und Neid aussterben, weil man ihnen keine Nahrung gibt. Das war es, woran er glaubte und worin ihn die Welt trotz all ihrer Greuel nicht erschütterte. Daß Bertrand Russell, Mathematiker, Philosoph und Pazifist, zuletzt einräumt, er habe die bloß theoretische Wahrheit vielleicht falsch verstanden, gibt erst seinem Bekenntnis den Rang. So irrte er auch nicht in dem Glauben, es gebe dergleichen wie einen erfolgreichen Kampf für Freiheit und Menschlichkeit und in der Einsicht, dies verlange unsere treue Ergebenheit.

AUTOBIOGRAPHIE 1944 BIS

1967. Von Bertrand Russell. Insel- Verlag 1971, 336 Seiten.

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