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BERTRAND RUSSELL / GROSS AUCH IM WIDERSPRUCH

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Auf der „Dritten Pugwash-Konferenz“ in Wien, die die Atomgefahr zum Thema hatte, fiel ein hagerer, aufrechter Herr besonders auf. Ein unvergeßliches, geistvolles, scharfgeschnittenes Gesicht mit einem großen, beweglichen Mund, von einem dichten Netz von Falten überzogen, die sich oben unter einer weißen, flockigen Mähne auflösten. Bertrand Russell, iSjährig, ältestem britischem Adel entstammend, dabei der Labourparty nahestehend, ist eine der eigenwilligsten, umstrittensten Persönlichkeiten unserer Zeit. Er hat, berühmt als Mathematiker, als Philosoph, als glänzender Schriftsteller, als Nobelpreisträger für Literatur sowie als Verfasser unzähliger Traktate, die durch ihren despektierlichen Witz amüsieren und fesseln, immer nur ein Ziel vor Augen gehabt: die Menschheit glücklich und zufrieden zu sehen. In der Verleihungsurkunde zum Nobelpreis, der für alle eigentlich damals, nicht etwa, weil er der Ehre unwert gewesen wäre, sondern weil er eigentlich als Naturwissenschaftler galt, überraschend war, wurde ihm bescheinigt, daß er ein „Apostel der Menschlichkeit und der Gedankenfreiheit“ sei. Sogar seine Gegner, und er hat deren viele, konzedierten ihm die elementare Stärke seiner Empfindungen, die namentlich in ihrer Abscheu vor Grausamkeit jeglicher Art und Diktatur jeglicher Farbe zur Leidenschaft anwachsen.

Während des ersten Weltkrieges saß er, der Professor in Cambridge, wegen seiner radikalen Friedenspropaganda im Gefängnis. Alle Interessen Englands schienen dem Dozenten in Cambridge das Leben der jungen

Männer nicht wert, die auszogen, um zu töten und getötet zu werden. 1939 revidierte er diesen Pazifismus, rief aber beschwörend aus: „Besser, die Welt geht zugrunde, als daß ich oder ein anderer Mensch an eine Lüge glauben soll. Das ist die Religion des Denkevts, in dessen versengenden flammen der Unrat der Welt verbrannt wird.“

Es dürfte der einzige Ausbruch des Pathos gewesen sein, dessen er, echter Sohn Englands, nicht fähig ist. Dieser Rebell •— ja, das ist das richtige Wort — mit seiner fast mystischen Liebe zum Menschen, hatte seinerzeit mit Einstein zusammen den Aufruf zur Aechtung der Bombe unterzeichnet. In der Caxton Hall, als es um die Wasserstoffbombe ging, deren Wirkung zu verniedlichen sich die Politiker befleißigten, stellte er der Welt ein Ultimatum: entweder-oder. In dem Buch „Wissenschaft wandelt das Leben“ finden sich die Sätze: „In den nächsten fünfzig Jahren muß die klare Wahl zwischen Vernunft und Tod getroffen werden. Und unter .Vernunft' verstehe ich die Bereitschaft, sich einem von internationaler Autorität erlassenen Gesetz zu unterwerfen. Ich fürchte, die Menschheit wählt den Tod. Ich hoffe, daß ich mich irre.“ Sie sind eine Probe von der oft ironischen, aber stets treffenden Denkart Bertrand Russells.

Aus seinen persönlichen, oft pessimistischen Betrachtungen kehrt er immer wieder zur Mathematik zurück, die frei von Leidenschaften und subjektiven Gefühlen ist, deren Formeln ewig sind, das Denken symbolisch machen und „wie jeder Versuch, über das eigene Ich und die eigenen Wünsche hinaus-zugelangen, als reichen Lohn Tiefe, Weite und Erkenntnisse schenken“. Lord Russell ist gewiß ein Mensch mit Widersprüchen, dessen eigenartige Ansichten über die Moral und die menschliche Seele er einmal in einem Streitgespräch mit einem Jesuitenpater zu verteidigen suchte. Aber es ist doch auch beruhigend zu wissen: hier steigt ein Mann von großem geistigem und moralischem Mut aus den eisigen Höhen mathematischen Denkens herunter, um sich mit aller Energie für die Freiheit einzusetzen.

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