Bertrand Russell  - © Foto: Getty Images / Bettmann / Kontributor

Bertrand Russell: Denker des Nonkonformismus

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Er war bedingungsloser Humanist, Literaturnobelpreisträger und der Mentor von Ludwig Wittgenstein. Aufgrund seines radikalen Pazifismus entging er nur knapp der Lynchjustiz. Zum 50. Todestag des englischen Philosophen Bertrand Russell.

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Er war bedingungsloser Humanist, Literaturnobelpreisträger und der Mentor von Ludwig Wittgenstein. Aufgrund seines radikalen Pazifismus entging er nur knapp der Lynchjustiz. Zum 50. Todestag des englischen Philosophen Bertrand Russell.

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„Drei einfache, aber heftige Leidenschaften haben mein Leben beherrscht: Das Verlangen nach Liebe, das Streben nach Erkenntnis und das Erbarmen mit der leidenden Menschheit.“ Dieses Bekenntnis des englischen Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell ist für sein Leben und Werk charakteristisch. Beides war durch eine grundlegende Ambivalenz geprägt. So war er einer der Mitbegründer der analytischen Philosophie und feierte in der wissenschaftlichen Welt große Erfolge durch seine bahnbrechenden Arbeiten über die logische Grundlegung der Mathematik. Andererseits provozierte er die Weltöffentlichkeit durch seine politischen Ansichten, seine Auffassungen über sexuelle Freiheit, antiautoritäre Erziehung und seine radikal pazifistische Gesinnung.

Bertrand Russell – der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1950 – vertrat sowohl in seinen Schriften als auch in seinem politischen Verhalten einen bedingungslosen Humanismus, der sich gegen jede Form der Intoleranz aussprach. Ähnlich wie Jean-Paul Sartre war er der Prototyp eines engagierten Philosophen, der sich gegen die politische Willkür der Herrschenden wandte.

Traditionsreiche Adelsfamilie

Bertrand Russell wurde 1872 in Südwales als Sohn einer traditionsreichen englischen Adelsfamilie geboren. An seine Eltern konnte er sich kaum erinnern, da sie schon sehr früh verstarben. Der Philosoph wuchs bei seinen Großeltern auf. Im Alter von elf Jahren entdeckte Russell seine Leidenschaft für die Mathematik und begann 1890 ein Studium dieser Wissenschaft und der Philosophie am Trinity College in Cambridge. Den philosophischen Vorlesungen konnte er nicht viel abgewinnen. „Das Meis­te, was ich dort an Philosophie lernte“, so schrieb er, „erkannte ich nach und nach als falsch. Die einzige Denkgewohnheit von wahrhaftem Wert, die ich von dort mitnahm, war intellektuelle Redlichkeit.“

In Cambridge lernte der rebellische Selbstdenker den Philosophen Alfred North Whitehead (1861–1947) kennen. Mit ihm verfasste er das umfangreiche Werk „Principia Mathematica“, das zu einem Standardwerk der Philosophie im 20. Jahrhundert wurde. Die achtjährige Arbeit an der Studie hatte Russell mit großem Enthusiasmus durchgeführt. „Es war eine Zeit intellektueller Berauschtheit“, notierte er, „ein Höhepunkt meines Lebens.“

An seinem Werk ‚Principia Mathematica‘ arbeitete Russell mit großem
Enthusiasmus – für ihn war es ‚eine Zeit intellektueller Berauschtheit‘.

Das Ergebnis dieser Studie hatte für die Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert entscheidende Konsequenzen. Gemeinsam mit Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein gilt Russell als einer der Begründer der analytischen Philosophie. Das große Verdienst der analytischen Philosophie bestand darin, philosophische Probleme durch eine streng logisch verfahrende Untersuchung zu klären. Analytische Philosophie sollte philosophische Gedanken, die oft verschwommen sind, auf den Grad der Klarheit hin befragen. Diese Intention teilte Russell mit dem österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein, der 1911 als Student erstmals nach Cambridge gekommen war, um hier Philosophie zu studieren. In Russell fand er einen wohlmeinenden Mentor vor. Zwischen den beiden unkonventionellen Denkern entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis, das allerdings den von seiner Arbeit an den „Principia Mathematica“ erschöpften Russell manchmal überforderte. Die Zusammenarbeit, die durch das exzentrische Benehmen Wittgensteins zu zahlreichen Spannungen führte, erfuhr einen jähen Abbruch. Die freundschaftliche Beziehung zu Wittgenstein wurde später niemals mehr aufgenommen.

Der Erste Weltkrieg war für Bertrand Russell ein traumatisches Ereignis. Von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt, setzte er sich öffentlich für die sofortige Beendigung des Krieges ein und unterstützte Wehrdienstverweigerer. Bei einer Versammlung von Kriegsdienstgegnern entging er nur knapp der Lynchjus­tiz aufgebrachter Patrioten. Sein radikales, pazifistisches Bekenntnis hatte auch berufliche Konsequenzen: Seine Dozentur am Trinity College in Cambridge wurde ihm entzogen und schließlich musste er eine sechsmonatige Gefängnisstrafe in Kauf nehmen.

Hang zur Populärwissenschaft

In seiner philosophischen Arbeit war Russell keineswegs bestrebt, ein unumstößliches, philosophisches Denkgebäude zu errichten. Vielmehr interessierte ihn die Analyse konkreter Probleme, wobei er durchaus bereit war, auf sachlich fundierte, kritische Einwände einzugehen und sie in seinen theoretischen Entwürfen zu berücksichtigen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges beschäftigte sich Russell aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen vermehrt mit gesellschaftspolitischen Fragen und verfasste allgemein verständliche, populärwissenschaftliche Schriften, die einen großen Leserkreis fanden. In seiner „Geschichte der Philosophie“, die von Albert Einstein als ein „in höchstem Sinn pädagogisches Werk“ eingestuft wurde, zeichnete Russell ein höchst subjektives Bild der philosophischen Traditionen, was ihm von der Fachwelt viel Kritik eintrug. Auch Schriften wie „Die Analyse des Geistes“, „ABC der Relativitätstheorie“, „Eroberung des Glücks“ und schließlich sein Werk „Ehe und Moral“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte, wurden als unwissenschaftlich abgetan.

Initiative mit Jean-Paul Sartre

Die Barbarei des Nationalsozialismus, die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges hatten Russell tief verstört und ließen ihn sogar an seiner pazifistischen Gesinnung zweifeln: „Ich stelle fest“, so schrieb er in seiner mehrbändigen Autobiographie, „dass ich in diesem Krieg meine pazifistische Haltung nicht beibehalten kann. Ich sehe in alledem keine Hoffnung für die Menschheit.“

Trotz dieser tiefgehenden Verzweiflung setzte sich Russell bis ins hohe Alter aktiv für eine bessere Welt ein. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens engagierte er sich für eine weltweite Abrüstung, protestierte gegen die wachsende Bedrohung durch die atomare Aufrüstung der Großmächte, organisierte Massenproteste, verfasste Manifeste und gründete Friedenskomitees. Besondere Aufmerksamkeit erregte sein Protest gegen das Eingreifen der amerikanischen Truppen in Vietnam. Gemeinsam mit Jean-Paul Sartre initiierte er im Alter von 94 Jahren das Vietnam Tribunal in Stockholm, in dem die US-amerikanische Okkupation auf das Schärfste verurteilt wurde.

Das lebenslange Engagement Russells für eine bessere Welt, die sich seiner Meinung nach in einer katastrophalen Lage befand, hielt ihn nicht ab, an die Möglichkeit eines erfüllten, glücklichen Lebens zu glauben. „Wenn ich mit intellektuellen Freunden spreche, festigt sich in mir die Überzeugung, vollkommenes Glück sei ein unerreichbarer Wunschtraum“, schrieb Russell, der am 2. Februar 1970 im Alter von 97 Jahren verstarb, „spreche ich dagegen mit meinem Gärtner, bin ich vom Gegenteil überzeugt."

WERKE VON BERTRAND RUSSELL:

Probleme der Philosophie
Suhrkamp 1967
160 S., kart., 10,30

Eroberung des Glücks. Neue Wege für eine bessere Lebensgestaltung
Suhrkamp 1977
174 S., kart., 9,30

Principia Mathematica
Mit Alfred North Whitehead
Suhrkamp 1986
205 S., kart., 13,40

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