Wittgensteins Wechsel-Jahre

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Zum 27. Symposium über den bedeutendsten österreichischen Denker.

Noch vor zehn Jahren stießen philosophische Wallfahrer aus aller Welt in Trattenbach, Otterthal und Kirchberg am Wechsel auf zahlreiche Zeitzeugen, sogar solche, die noch persönlich eine bekommen hatten - eine Watschen von L.W., dem wohl berühmtesten Volksschullehrer der Welt. Be- und Getroffene der Zwischenkriegszeit outeten sich freimütig. Streng war er, ... aber kreativ und anregend.

Seit 1976 trafen im Umfeld der alljährlichen Symposien - jeweils in der zweiten Augustwoche - Wittgenstein-Schüler aus dem hinteren Feistritztal sporadisch auf Wittgenstein-Studenten aus Cambridge; Repräsentanten zweier völlig unterschiedlicher Soziotope, geeint durch persönliche Erinnerungen an einen schwer verständlichen Denker. Beider Reihen sind nun ausgedünnt. "Die Jahrgänge, die von ihm hier unterrichtet worden sind, sterben aus", konstatiert die Wirtin im Gasthof zur 1000-jährigen Linde. "Dagegen leben noch etliche Weggefährten aus seiner späten englischen Periode", stellt Christian Kanzian, Geschäftsführer der Österreichischen Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft und Großneffe eines Schülers, fest. "Mit den meisten von ihnen halten wir engen Kontakt." Doch der akademisch-rurale Erfahrungsaustausch zum saisonalen Höhepunkt wird nun geprägt von den Nachfahren, den leiblichen der Schüler und den geistigen der Studenten.

Gedankenfrieden am Land

Im September 1920 kommt der schwermütige Wittgenstein zu Fuß übers Gebirg' ins Trattenbachtal, wie Büchners Lenz mit der verzehrenden Hoffnung, Gedankenfrieden zu finden. Hinter ihm liegen die logischen Grabenkämpfe mit seinem Freund und Mentor Bertrand Russell in Cambridge, die Stahlgewitter an der Front und die Lehrerbildungsanstalt in der Wiener Kundtmanngasse. Sein "Tractatus logico-philosophicus" findet immer noch keinen Verleger.

Erfahrung und Analyse

Die Berufung war zugleich Flucht. Vor obsessiven Selbstmordgedanken rettete den 30-Jährigen der vermeintliche Sprung ins einfache Leben, der alles noch komplizierter machte. Fernab vom Alltag des einsamen Landpädagogen wuchs inzwischen dessen philosophischer Weltruhm, als gehöre er einer anderen Person an. Die englische Version des "Tractatus" bringt den Durchbruch. Der Volksschullehrer verlässt seinen letzten Wirkungsort Otterthal - ohne sich dessen recht bewusst zu sein - als lebende Legende.

Wieder zurück in Cambridge wird er von seinem vielbewunderten Gedankengebäude keinen Stein auf dem andern lassen; anstelle des logischen Atomismus - sozusagen der Zerlegung von Sprache und Welt in Bits - tritt der logische Holismus des "Sprachspiels".

Das 27. Internationale Wittgenstein Symposium 2004 stieß schon im Vorfeld auf überdurchschnittliches Interesse - über 250 Fachteilnehmer registrierte die langjährige Tagungsmanagerin Margret Kronaus (Urenkelin einer Schülerin), um ein Drittel mehr als üblich. Maria Reicher und Johann Marek, die wissenschaftlichen Organisatoren von der Uni Graz, thematisierten unter dem Motto "Erfahrung und Analyse" ein urösterreichisches philosophisches Trauma, die Spaltung zwischen phänomenologisch/beschreibender und analytisch/zergliedernder Forschungsrichtung. Für Reicher ist der Dialog überfällig: "Die Großväter' beider Richtungen, Bernhard Bolzano und Franz Brentano, kannten diese Opposition noch nicht. Sie nahmen innere Erfahrung und begriffliche Analyse gleichermaßen ernst." In Brentanos Kraftfeld bewegten sich nicht nur Husserl, Freud und Sartre. Über Alexius Meinong in Graz wurde auch Russell von Brentano geprägt, und damit schließt sich wieder der Kreis zu Wittgenstein - dem Grenzgänger zwischen rückhaltloser Sprachanalyse und Verteidiger des Unaussprechlichen.

"Beim Wittgenstein g'lernt"

"Bei allen Erfolgen wurden in der analytischen Richtung Fragen nach der objektiven Gültigkeit von Bewusstsein, Bedeutung und Wert vernachlässigt", moniert Marek. "Jetzt findet ein Wechsel statt, die klassischen Probleme des Geistes werden wieder ernstgenommen."

Es war - wieder einmal - eine Ohrfeige, die L.W.'s Lehrerkarriere im Wechselgebiet jäh beendete. Der gezüchtigte Schüler verlor das Bewusstsein und der Lehrer den Posten. Trotzdem hielt sich in Kirchberg-Umgebung bei den Bauern die nostalgische Redensart: "Das hab' ich beim Wittgenstein g'lernt." Ein Spruch, den der eine oder andere in seinem heimatlichen Philosophie-Institut äußern wird, wenn er vom Wechsel heimkommt.

Der Autor ist freier Journalist.

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