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Die Wittgenstein-Flamme

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Bei strahlend schönem Wetter trat das Wittgenstein-Symposion in Kirchberg am Wechsel, dem zeitweisen Arbeitsort des großen Philosophen, als er noch als Volksschullehrer tätig war, vom 19. bis 26. August in seine neunte Runde. Außer dem Thema Wittgenstein und seiner Philosophie waren, wie schon in mehreren Jahren davor, auch einzelwissen-

schaftliche Probleme in Behandlung, die mit Wittgenstein manchmal nur indirekt oder gar nicht zusammenhingen. In den Plenarsitzungen und Workshops wirkten allerdings vorwiegend Fachwissenschaftler und Philosophen aus aller Welt mit, die dem „Wiener Kreis" der Philosophie nahestehen. *

Die Philosophie des „Wiener Kreises" zeichnet sich bekanntlich durch ihre Abneigung gegen spekulative Metaphysik und durch ihre beständige Vorliebe für Empirie, Logik, Klarheit und Präzision ihrer Aussagen und das Bemühen um die akuten theoretischen Problemgebiete der Einzelwissenschaften aus. Moritz Schlick und Rudolf Carnap, Kurt Gödel, Semson L. Frank, Herbert Feigl, Otto Neurath, Victor Kraft und Karl Popper zählen zu seinen Begründern. Ludwig Wittgenstein war vermutlich der eigenwilligste und poetischste unter ihnen.

Der „Wiener Kreis" begann sich in den dreißiger Jahren über die ganze Welt auszubreiten. In Wien

und Österreich führte er während des Zweiten Weltkrieges nur ein Schattendasein, trat nach Kriegsende wieder in die Öffentlichkeit, wur.de aber auf Betreiben belangloserer philosophischer Strömungen auf Sparflamme gehalten. Nicht zuletzt unter dem Einfluß der Wittgenstein-Symposien in Kirchberg brennt diese Flamme auch in Österreich wieder etwas höher.

Unter den Themen des 9. Symposions waren neben erkenntnistheoretischen und logischen Problemen auch solche der Neu-rophysiologie, der Psychologie (beispielsweise Wahrnehmung, künstliche Intelligenz), der Psychotherapie und Psychoanalyse, der Evolution (von Naturerkenntnis, Erkenntnis überhaupt und Bewußtsein), der Sprache und sprachlichen Kommunikation sowie der Schrift, sogar der Kunstsprache Esperanto. Wittgensteins Beiträge zu den Begriffen der Bedeutung, des Wissens und des Bewußtseins sowie neue Anwendungsversuche derselben

wurden abgehandelt.

Ergebnisse? Wegen der jeweils in sechs Sektionen gehaltenen Workshops und der inhaltlichen Vielfalt läßt sich darüber in Kürze nichts Allgemeines sagen. Am ehesten noch: Die erkenntnistheoretische Verständigung der Teilnehmer über die meisten, der angesprochenen Probleme kam ein Stück voran.

Interessant war dabei auch die interdisziplinäre Annäherung von Biologen, Neurophysiologen, Psychologen und Psychiatern, Linguisten, Sozialwissenschaftlern und Philosophen aneinander. Sie verstehen etwas besser als zuvor, was die anderen tun und wie sie denken. Das könnte der Sache selbst, der Wahrheitsfindung, nützen.

Im Verlauf des Symposions wurde durch Vertreter der niederösterreichischen Landesregierung in Aussicht gestellt, daß das Land Niederösterreich, das bisher zusammen mit dem Beitrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung von Jahr zu Jahr den Löwenanteil der Kosten der Veranstaltung getragen hatte, für eine finanzielle Dauerlösung sorgen wird. Damit haben die Bemühungen des österreichischen I Philosophen Werner Leinfellner, der seit 15 Jahren an der Universi-ty of Nebraska (USA) die Wiener Schule vertritt und zusammen mit dem Kirchberger Tierarzt Adolf Hübner die Wittgenstein-Symposien begründet und wissenschaftlich betreut hat, endlich auch die gebührende österreichische Anerkennung gefunden.

Der Autor ist Professor für Psychologie an der Universität Erlangen.

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