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Österreicher in Paris
Die Frage nach der Identität des österreichischen wird nicht allein im Inland zur Zeit heftig diskutiert. Auch in anderen Ländern, wo österreichische Kultur und Geistigkeit der letzten Jahrhunderte auf immer größeres Interesse stößt, beginnt man langsam auf die Eigenständigkeit des österreichischen aufmerksam zu werden. Zwar werden immer noch viele österreichische Autoren oder Philosophen als Deutsche betrachtet, aber die Einsicht in die ganz anders gearteten Entwicklungslinien der Doppelmonarchie gewinnt immer mehr an Boden.
Waren es zunächst amerikanische Kultur- und Geisteshistoriker, die dieser unverwechselbaren Atmosphäre des 19. und 20. Jahrhunderts nachgingen, zeigt sich seit einiger Zeit auch bei den unmittelbaren Nachbarn — nicht zuletzt durch die Renaissance der Mitteleuropa-Idee — zunehmendes Interesse an einer österreichischen, eigenständigen Tradition und Gegenwart. Zur Zeit scheint auch Frankreich in besonderem Maße an österreichischer Kultur und Geistigkeit interessiert. Nun hat zwar der ebenfalls aus Österreich stammende und in die USA emigrierte Germanist Heinz Politzer zu Recht festgestellt, daß alles für unser Jahrhundert Wesentliche, den Marxismus ausgenommen, in Österreich erfunden worden sei, aber es bedarf einer forcierten Auslandskulturarbeit und -politik, um mehr mit Österreich zu verbinden, als bestenfalls Strauß-Walzer und Freuds Psychoanalyse.
In Frankreich hat das österreichische Kulturinstitut unter der Leitung von Rudolf Altmüller eine erfreuliche Bilanz der Arbeit der letzten Jahre aufzuweisen, wobei Philosophie und Wissenschaft besondere Beachtung fanden.
Gerade angesichts der französischen Denktradition ist es nicht einfach, die Philosophie eines Ludwig Wittgenstein oder eines Karl Popper breiteren Kreisen nahezubringen. Immerhin hat das im Sommer im traditionsreichen Normandieschloß Cerisy-la-Sal-le abgehaltene Wittgenstein-Symposion ebenso dazu beigetragen, manches Mißverständnis der Wittgensteinrezeption abzubauen, wie die vorangegangenen Kolloquien zu Karl Popper oder zur
Philosophie des Wiener Kreises.
Die traditionellen Reserven des französischen Philosophierens gegenüber dem logischen Positivismus konnten auf diese Weise vermindert werden; eine von Mystifikationen unberührte Diskussion des „Wiener Kreises" seitens französischer Philosophen brachte ebenfalls mehr Klarheit und förderte die Annäherung.
Man kann die Wirkung derartiger Veranstaltungen, die multiplikatorische Effekte für Universitäten und Forschungszentren enthalten, kaum überschätzen. Veranstaltungen, wie etwa das im Oktober im Pariser „Centre Pom-pidou" mit großem Erfolg über die Bühne gegangene Kolloquium „Wien 1880 bis 1938: Jahrhundertwende und Modernität", vermochte über die akademischen Kreise hinaus auch ein breiteres Publikum anzusprechen.
Im Dezember wird in Zusammenarbeit mit der klinischen Psychiatrie in Paris ein den Wiener Schulen der Psychiatrie gewidmetes Kolloquium stattfinden, das nach der Absicht der Veranstalter weit in das kulturgeschichtliche Ambiente hineinleuchten soll. Dieser Tagung wird ein Symposion zum Wiener Judentum vorausgehen, das der Bedeutung des Judentums für die österreichische Kultur in sozialgeschichtlicher, politischer und intellektueller Hinsicht nachgehen soll. Für 1985 ist bereits ein Musil-Kolloquium und auch eines zu Rudolf Carnap geplant und 1986 soll die Ausstellung „Wien 1900" im „Centre Pompidou" gezeigt werden.
Die an der Universität Rouen erscheinende Zeitschrift „Austriaca" stellt einen weiteren Brennpunkt spezifisch österreichischer kultureller Entwicklungen dar, sodaß man auch Hoffnung hegen kann, in Österreich selbst zunehmend mit einer „Aus-triazistik" konfrontiert zu werden. Der Reichtum und die nahezu unerschöpfliche Fülle Österreichs böten mehr als einen Grund hiefür.
Es fragt sich allerdings, ob eine gewisse engstirnige Fachbezogenheit und die Einseitigkeit im Betrachten geistesgeschichtlicher Vorgänge überwunden werden können. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, unter Teilnahme von Autoren und Künstlern, wäre die angebrachte Art, die im Ausland so fleißig betriebene „Austriazi-stik" auch in Österreich weiter auszubilden.
Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.
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