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Winterschlaf eines Buches

Über das Buch „Logik, Sprache, Philosophie“ von Friedrich Waismann wird nicht viel geredet, nicht viel geschrieben. Aber wenn wirklich Bücher Schicksale haben, hatte dieses ein tragisches. Denn das Manuskript zu dem nun endlich auch in deutscher Sprache, als 662 Seiten dickes, ansonsten unscheinbares Reclam-Bänd- chen, vorliegenden Werk wurde vor 40 Jahren fertiggestellt. Noch vor 25 Jahren hätte es, als erste umfassende Einführung in das Denken des reifen Ludwig Wittgenstein der frühen dreißiger Jahre, Furore machen können. Obwohl die Übersetzung ins Englische1 bereits 1939 fertig gesetzt wurde, verzögerte sich ihr Erscheinen bis 1965. Das deutsche Original ist vermutlich in den Räumen eines holländischen Verlages durch eine Brandbombe vernichtet worden. Der Text mußte mühsam rekonstruiert werden: Waismann, der 1959 starb, hinterließ zwar einen Durchschlag des Manuskripts, aber Teile, die er für bruchstückhafte Veröffentlichungen entnommen hatte, fehlten. Der Originaltext mußte unter Verwendung der 1939 hergestellten englischen Fahnen von den Herausgebern mühsam rekonstruiert werden.

Auch dieses Original stellt bereits die Erweiterung und Umarbeitung eines Textes dar, der ursprünglich eine der ersten und zentralen Veröffentlichungen des Wiener Kreises hätte werden sollen und für den Moritz Schlick bereits 1930 (!) eine Vorrede geschrieben hatte. Zusammen mit dem Buch gelangt nun auch sie ans Licht; das ganze Selbstbewußtsein einer zu neuen Ufern aufgebrochenen Schule von Philosophen enthält sie konserviert. Schlick konnte nicht ahnen, daß nicht nur Waismanns Buch, sondern die ganze Wittgensteinsche Philosophie, um mit einem schönen, von den Herausgebern im Nachwort gebrauchten Bild zu sprechen, in einen Winterschlaf eintreten sollte und # eben jener Philosoph im Vordergrund stehen würde, den er mit einem fulminanten Seitenhieb bedenkt: „Der Wissende erstaunt wohl darüber, daß Gelehrte heute wieder Bücher über ,Das Sein“ und ähnliche Themata schreiben, aber bald nachdem er sie aufgeschlagen, weiß er, daß man sich bald wieder der Beachtung schämen wird, die sie eine Zeitlang finden, und daß ein zukünftiger Betrachter nicht in ihnen, sondern an ganz anderen Stellen die wahren Zeichen der philosophischen Besinnung unserer Zeit sehen wird.“

Daß die vom Wiener Kreis gesetzten Zeichen gerade in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen wurden, hängt freilich, unter anderem, auch damit zusammen, daß Wittgenstein nicht nur den Paukenschlag eines neuen Anfangs setzte, sondern durchaus auch in der auf Brentano und, noch weiter zurück, Herbart und Bolzano rückführbaren österreichischen Denktradition gesehen werden kann, die mehr in die Oststaaten ausstrahlte als nach Deutschland - worauf Rudolf Haller vor wenigen Jahren hin wies.

Waismanns Buch ist nicht nur eine Einführung in Wittgensteins Denken, die manches Dunkle klärt. Es stammt auch von einem der wenigen, die mit Wittgenstein engen Kontakt pflogen, bevor pler sich zunehmend Abkapselnde sie der Quelle verwies. Carnap und Feigl hatte er schon 1929 verbannt, die Abgabe seiner Stenogramme an die „Tafelrunde“ 1931 eingestellt, unersetzliches Wissen über ihn starb mit dem 1936 im Alter von 54 Jahren an der Wiener Universität ermordeten Schlick. Waismann hatte bis 1936 zumindest teilweisen Zugang zu Wittgensteins Materialien. Daß er Wittgenstein da und dort modifiziert, daß er einzelne von Wittgenstein aufgegebene Positionen weiter tradiert, ist nicht negativ zu bewerten angesichts eines Philosophen, der, wie Wittgenstein, „die wunderbare Gabe“ hatte, „die1 Dinge immer wieder wie ~zum erstenmal zu sehen“ und, der „Eingebung des Augenblicks“ folgend, niederzureißen, was er vorher entworfen hatte, wie es der leidgeprüfte Waismann in einem Brief an Schlick 1934 formulierte.

LOGIK, SPRACHE, PHILOSOPHIE von Friedrich Waismann. Reclam- Verlag, Stuttgart, „Universal-Biblio- thek“ 9827, 662 Seiten, öS 152,46.

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