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LUDWIG WITTGENSTEIN EIN AUSSERORDENTLICHER ÖSTERREICHER

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Wittgenstein ist in England, Amerika berühmt und wirksam, ja zu einer geradezu magischen Chiffre geworden. Das zur kleinbürgerlichen und muffigen geistigen Provinz gewordene Österreich, das heute mjt vielen lauten Worten und Phrasen von seiner „Kultur“ spricht, hat nicht Notiz von ihm genommen. Dürfen wir es wagen, anzumerken, daß dieser Mann auch ein österreichischer Patriot seltenen Ranges war? Einer seiner Brüder erschoß sich, Kommandeur ungarischer Einheiten, als diese 1918 die Südfront verließen, um nach Ungarn abzuziehen. Ein anderer Bruder, der berühmte einarmige Pianist, Paul Wittgenstein, der vor wenigen Wochen in London starb, war Kriegsversehrter des ersten Weltkrieges. Ludwig Wittgenstein selbst trug im Tornister, in die Kriegsgefangenschaft bei Monte Casino, die Schrift, die ihn weltberühmt machen sollte, den Tractus logico- philosophicus.

Wittgenstein wurde genau eine Woche nach Adolf Hitler geboren, am 26. April 1889 in Wien. Mit Wien und Österreich ist das Universalgenie Ludwig Wittgenstein unter anderem verbunden: durch das Haus, das er seiner Schwester 1924 in der Kundmanngasse baute, ein wirklich modernes Haus, durch die Jahre als Volksschullehrer, 1920 bis 1926, an verschiedenen Volksschulen Niederösterreichs (der bereits in England bekannte Denker absolvierte 1919 20 die Lehrer-

bildungsanstalt in Wien, nach seinen Studien in Berlin, Jena, Cambridge!); er gab damals ein kleines Wörterbuch der deutschen Sprache für Volksschulen heraus …

Dieser hochbegabte Musiker, Mathematiker, Denker, Ingenieur, Erfinder, Plastiker, hatte hier in Wien sein großes, vom Vater ererbtes Vermögen verschenkt. Einen Teil übergab er an Ludwig von Ficker zur Verteilung an bedürftige Dichter am Vorabend des ersten Weltkrieges. Ficker wählte Trakl und Rilke. Fickers Erinnerungen an Wittgenstein bilden das einzige, große Mahnmal, das in Österreich an diesen außerordentlichen Menschen erinnert. Womit wir nicht mißverstanden werden sollen: wir plädieren nicht dafür, daß zu seinen Ehren ein Denkmal geschaffen wird, in einem Milieu, in dem kein Mensch weiß, wer er war… Wohl aber gedenken wir dieses Lebendigen, um auf seinen Geist aufmerksam zu machen; diesen haben wir heute und morgen nötig, als ein tägliches Brot wahrer Selbsterkenntnis.

Ludwig Wittgenstein, der Philosoph, der in seinem Zimmer in Cambridge außer Tisch und Stuhl kaum einige Habseligkeiten besitzen wollte, ein Mann von umfassender technischer und humanistischer Bildung (er arbeitete bereits 1909 bis 1911 in England an äronautischen Experimenten und an Versuchen mit Flugzeugpropellern mit Reaktionsantrieb), der immer wieder dem schlichten Dienst am Nächsten sich widmete (als Helfer in einem Krankenhaus, als Laboratoriumsgehilfe), lehrte: Denken ist vor allem ein Mittel zur Selbstenttäuschung, Einübung in Demut, in Nichtwissen; denken ist Selbstkritik; Aufgabe des philosophischen Denkens ist es, die vielen Fallen aufzuzeigen, die der Mensch sich durch falsches Denken bereitet, wodurch er, sich überhebend, anmaßend, zum Mörder und Selbstmörder wird. Wer sich selbst nicht weh tun will, wer gegen sich selbst nicht hart zu sein wagt, ist es notwendig gegen andere. Wittgenstein gestaltete jede seiner „Vorlesungen“ frei, ohne Manuskript, als schöpferischen Prozeß, so daß er nach feder „Vorlesung“ völlig erschöpft war: richtiges Denken ist ihm ein Mitdenken, Mitrechnen, Mitleiden von all dem, was wahrgenommen werden kann. Bertrand Russell bekennt von diesem Manne: „Wittgenstein kennenzulernen, war eines der erregendsten geistigen Erlebnisse meines Lebens.“ Es ist an der Zeit, daß eine Jugend und eine jüngere Generation in Österreich, nach den Jahren der Phrasen und unschönen Täuschungen, die hinter uns liegen, aufmerksam wird auf diesen reinen, gegen sich selbst unerbittlichen Geist, auf den außerordentlichen Österreicher Ludwig Wittgenstein, geboren in Wien am 26. April 1889, gestorben in Cambridge am 29. April 1951.

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