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Wechselndes Licht
Manchmal könnte man meinen, die Autoren und ihre Werke drehen sich im Lauf der Jahrzehnte um ihre eigene Achse - sie zeigen bisher verborgene Züge, die früher einfach nicht wahr genommen wurden. Wir waren es, die unsere Position durch Entwicklungen der Zeit geändert haben, wir sehen heute vieles aus einer anderen Perspektive.
Gerade bei außerordentlichen, ihre Zeit überdauernden Persönlichkeiten und deren Werken geschieht dies, andere rücken ohnedies in den Hintergrund, aus dem sie auch wieder unerwartet hervortreten können.
Julien Green etwa war nach 1945 vieldiskutiert, sehr präsent mit seinen existentiell verquälten großen Romanen, dann verschwand er. Viele Jahre gab es keines seiner Bücher in deutscher Übersetzungzukaufen. Jetzt erscheint im Hanser-Verlag eine Gesamtausgabe, Julien Greens 85. Geburtstag war Anlaß ausführlicher Essays und Artikel in den Zeitungen.
Franz Kafka und Ludwig Wittgenstein haben uns nie verlassen, sie waren stets nahe, kamen nie aus dem Gespräch, jede Generation fand eine aufregende Beziehung zu ihnen - aber jede eine andere. Wittgensteins “Tractatus logi- cophilosophicus“ wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wissenschaftstheoretisch, neupositivistisch auf gef aßt. Die geistige Gestalt Wittgensteins erschien von dem Satz “Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“ bestimmt. Der anti-metaphysische, anti-religiöse Wittgenstein stand vor uns und übte Einfluß in dieser Richtung aus.
Inzwischen lesen immer mehr Menschen auch den “Tractatus“ ganz anders. Wer hätte Wittgenstein damals Sätze zugetraut wie: “Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt.“ Oder: “Ist, was ich tue, überhaupt der Mühe wert? Doch nur, wenn es von oben her ein Licht empfängt. “ Oder: “Wenn Du also im Religiösen bleiben willst, mußt Du kämpfen.“ Zeigen sich nun nicht das gesamte Werk und die Persönlichkeit Wittgensteins in anderem Licht?
Oder wer hätte nach 1945 von Franz Kafka Sätze erwartet wie: “Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden. Christus hat für die Menschheit gelitten, aber die Menschheit muß für Christus leiden.“ Oder: “Schreiben als Form des Gebetes. “ Wir haben unsere anscheinend so bekannten Dichter und Philosophen gerade der jüngeren Vergangenheit noch lange nicht erkannt.
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