6785929-1970_13_12.jpg
Digital In Arbeit

Der letzte Anstieg

19451960198020002020

Vor etwa sechzig Jahren konnte man auf einem der vielen alten Schlösser im niederösterreichischen Waldviertel am morgendlichen Beginn eines Vorganges teilnehmen, der sich in die wertbeständigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts einreihen läßt. Es handelt sich um das neue Bild des Dichters Friedrich Hölderlin, der bis zum Beginn des Jahrhunderts eine Nebenfigur der „romantischen“ Dichtung darstellte und wegen seiner geistigen Umnachtung weithin überhaupt nicht ernstgenommen wurde. Mit seinem 32. Lebensjahr begann diese, aber er starb erst mit 73 Jahren (1843). Von Krems an der Donau, dem Endpunkt der berühmten Wachau zwischen dem Stift Melk und Krems, fuhren wir damals etwa zwei Stunden mit dem Zweispänner sanft aufwärts auf die böhmische Grenze zu. Dort liegt das Schloß Lichtenau, das dem Prager Universitätsprofessor der Philosophie und Psychologie, Freiherr Christian von Ehrenfels, gehörte. Dieser hat auf die geistige Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts größeren Einfluß genommen, er schuf um die an solchen Ereignissen überreichen Jahrhundertwende die Gestalt-Theorie, ohne die die Wissenschaft unserer Zeit nicht mehr denkbar wäre, und auch die Philosophie der Werte stellte Professor Christian v. Ehrenfels in einem Standardwerk auf eine neue Basis.

19451960198020002020

Vor etwa sechzig Jahren konnte man auf einem der vielen alten Schlösser im niederösterreichischen Waldviertel am morgendlichen Beginn eines Vorganges teilnehmen, der sich in die wertbeständigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts einreihen läßt. Es handelt sich um das neue Bild des Dichters Friedrich Hölderlin, der bis zum Beginn des Jahrhunderts eine Nebenfigur der „romantischen“ Dichtung darstellte und wegen seiner geistigen Umnachtung weithin überhaupt nicht ernstgenommen wurde. Mit seinem 32. Lebensjahr begann diese, aber er starb erst mit 73 Jahren (1843). Von Krems an der Donau, dem Endpunkt der berühmten Wachau zwischen dem Stift Melk und Krems, fuhren wir damals etwa zwei Stunden mit dem Zweispänner sanft aufwärts auf die böhmische Grenze zu. Dort liegt das Schloß Lichtenau, das dem Prager Universitätsprofessor der Philosophie und Psychologie, Freiherr Christian von Ehrenfels, gehörte. Dieser hat auf die geistige Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts größeren Einfluß genommen, er schuf um die an solchen Ereignissen überreichen Jahrhundertwende die Gestalt-Theorie, ohne die die Wissenschaft unserer Zeit nicht mehr denkbar wäre, und auch die Philosophie der Werte stellte Professor Christian v. Ehrenfels in einem Standardwerk auf eine neue Basis.

Werbung
Werbung
Werbung

Magisch zog dieser Mann Menschen mit höheren Ansprüchen in seinen Bann. Er war vielseitig, geistvoll, musisch, ein Schüler Anton Bruckners und wie dieser begeisterter Anhänger Richard Wagners, zu dessen Bayreuther Festspielen er in seiner frühen Jugend zu Fuß pilgerte. Vor 60 Jahren trafen sich dri Münchner, der Neffe des Schloßherm, der mit mir 1907 das Abitur gemacht hatte und mich nach Lichtenau „mitnahm“, und der gleichaltrige Norbert v. Hellingrath, Sohn eines höheren Offiziers in München und einer griechischen Prinzessin. Hellingrath fühlte sich durch eine innere Verwandtschaft mit Hölderlin verbunden, hatte gerade die ersten entscheidenden Erkenntnisse über Hölderlins letzte Werke erarbeitet und war berufen, ein neues Hölderlin-Bild zu schaffen, das in seinen Grundzügen gültig wurde und gültig bleiben wird. Auf der Münchner Bibliothek konnte er die in den Hölderlin-Städten Stuttgart und Homburg vor der Höhe vorhandenen Handschriften mit unendlicher Mühe entziffern. Auch entdeckte er Hölderlins verloren geglaubte Übertragungen des altgriechischen Dichters Pindar.

Hellingrath war ein ganz nach innen gerichteter Mann, der mit einer geradezu leidenschaftlichen emotionalen Beteiligung an den Gesprächen des Ehrenfels-Kreises teilnahm. Zu diesem gehörte auch die geistvolle Frau von Ehrenfels und die Tochter, die als Imma v. Bodmershof durch ihre epischen Dichtungen bekannt und mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Mit Worten war Hellingrath allerdings sparsam, er hat in seinen Tagebüchern mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß ihm Diskussionen nicht liegen, wie sie dann in jenen Jahren die Jugendbewegung in unendlichen Tag-und Nachtgesprächen pflegte. Das sollte er nicht mehr erleben. Er fiel vor Verdun am 14. Dezember 1916 durch einen Volltreffer in der Kampflinie. Aber die Art und Weise, in der er die neu entdeckten und von ihm gedeuteten Hölderlin-Hymnen und auch eigene Gedichte vortrug, bleibt unvergeßlich.

*

Im Mittelpunkt der Gespräche, die im Schloß oder auf Wanderungen durch die schönen Wälder der Umgebung stattfanden, stand oft die Frage nach dem wahren Dichter. Hellingrath, in deutscher und griechischer Sprache und Kultur bewandert, wußte uns seine Überzeugung nahezubringen, daß in Hölderlin ein Dichter von hohen Graden erstanden war, ja, daß man ihn trotz seiner oft schwierigen, verschlossenen und verschlüsselten Darstellungsweise als einen Leitstern für unser durch Dichtung erhöhtes Leben ansehen kann. Leichtherzige Vergleiche lagen Hellingrath nicht. Unter seinen Aphorismen und auch in einem Brief findet sich der Ausspruch, Goethe sei der größte Dichter, Hölderlin aber sei der größte deutsche Dichter. Solche Worte darf man nicht pressen, aber sie zeigen die Richtung an. Zu den damals meistgenannten deutschen Dichtem George und Rilke fand er ein teils verehrungsvolles, teils kritisches Verhältnis. Jedenfalls konnten wir, die wir damals auf so frühe und unmittelbare Weise mit den letzten Werken Hölderlins bekannt wurden, uns von ihnen für unser ganzies Leben nicht mehr trennen. Abends wurde musiziert oder philosophiert. Streitgespräche waren nicht selten. Für Hellingraths Charakter spricht seine Niederschrift, daß er nicht möglichst viele „Erlebnisse“ sammeln wollte, sondern sich immer auf Wesentliches konzentrieren und darüber grübeln müsse. Im Gespräch fühlte er sich vom Adressaten seiner Worte so stark bestimmt, daß ihm Konversation als furchtbare Energieverschwendung erschien. Unter diesen Streitgesprächen erinnere ich mich sehr deutlich an eines, bei dem es um die Frage ging, ob Richard Wagner ein Dichter war. Hellingrath gegen Ehrenfels: Nein! Selbst als Ehrenfels Wagners Ring des Nibelungen erläuterte und in diesem eine ganze Philosophie fand über die Gefahr des gleißenden Goldes, den Sinn des Daseins und das Schicksal der Welt, und als er den „Tristan“ als ein auch dichterisch vollkommenes Werk darstellte — wobei wir beiden anderen aus der Wagner-Stadt München ihm beipflichteten —, blieb Hellingrath unbeirrt. Nur durch diese im Hölderlinschen Sinne zugleich schöne und unerbittliche Besessenheit ist es ihm gelungen, das neue Hölderlin-Bild zu schaffen und mit allen Mitteln strenger Sprachwissenschaft gegen viele und oft recht unzuständige Mißdeutungen abzusichern. Der Streit aber konnte nicht geschlichtet werden. Vielleicht lag es auch an einer innersten Veranlagung Hellingraths, über die er im Tagebuch schrieb — am 15. November 1905, also mit 17 Jahren: „Ich glaube, die Musik ist mir zum

Heil versagt. Sie ist zu leicht; sie macht die Stürme drinnen zu Stürmen draußen, widerstandslos. Die harte, ungefüge Sprache verlangt Gestaltung. Eine Riesenarbeit von Gestaltung, von Zucht, von Selbstzucht. Wohlan! Wohlauf!“ Aber wir drei Musikbesessenen konnten mit den anderen Mitgliedern der Familie trotzdem den Weg Hellingraths zum neu gedeuteten Hölderlin mitgehen, wenn auch gewiß nicht mit der einzigartigen Inbrunst und der immer wieder im Denken und Tun bewiesenen Hingabe Hellingraths. Hölderlins Worte wie die: „Denn liebend gibt der Sterbliche vom Besten“ oder „Was wir sind, ist nichts, was wir suchen, ist alles“, kennzeichneten ihn. Dabei ging Hellingrath den Aufstiegsweg Hölderlins in immer reinere Luft, auf immer schmaleren und gefährlicheren Stufen bic zu den Höhepunkten der letzten Gedichte. Einmal aufmerksam gemacht auf eine solche höchste Steigerung des Lebenswerks, über die hinaus nichts Höheres mehr möglich ist, mag mancher von uns einen ähnlichen Weg zum Gipfel gefunden haben bei Goethes Spätwerken, in Beethovens letzten Quartetten, in ähnlicher, wenn auch nicht so starker Weise bei Schubert und Brahms oder auch beim letzten Rembrandt.

*

Gewiß empfanden wir mit Hellingrath die Schwierigkeiten, Hölderlin folgen zu können. Er sagte, daß Hölderlin in seinem Überschwang der Verehrung der griechischen Götter, zu denen schließlich Christus als ihr Höchster hinzukam, immer unverständlicher, seine Worte immer mehr nur Andeutungen werden mußten. Aber gerade in der Kunst der Ausdeutung durch die Verschleierung und die Verschiedenheit der Worte hindurch hat Hellingrath ein Beispiel hohen Ranges gegeben. Indem er die religiöse Basis bei Hölderlin als wesensnotwendig erkannte, hat er dann in seiner Nachfolge philosophisch weit ausgeholt und dabei auch eine Wissenschaft verurteilt, die sich anmaßend und gleichwertig neben die Religion stellt. Auf Hölderlin zielen seine Sätze:

„Es ist das Kennzeichen der schöpferischen Tiefe eines Geistes — es sind das die mächtigsten Geister, die, was ihr Erkennen auch ergreift, unter dem Gebot unerbittlichen Zwanges rastlos weiter müssen ins Endlose, denen die scheinbar nächste und geringste Frage zur Frage nach den letzten Dingen wird ... Warum in der Tat Hölderlins Wahnsinn werbende Kraft hat? Weil gelöste Fragen nicht, sondern Rätsel reizen. Weil nicht die gänzliche Ausgestaltung, sondern die geahnte Tiefe ergreift und lockt. Deshalb auch muß, je mehr gesagt wird, desto dunkler gesagt sein bei gleicher Kunst: ,und die Mitte bleibt fest'.“ Wir haben bisher mit Absicht keine Ausschnitte aus Hölderlins Gedichten oder gar den Hymnen aus der letzten Zeit gebracht. Man kann und darf sie nur als ganze, lesen. Es ist auch unendlich viel darüber geschrieben worden, Zutreffendes, Belangloses, Falsches. Wir möchten aber auf eine Besonderheit hinweisen, die nicht immer beachtet wurde. Hölderlin verstand es nach langem inneren Verweilen und Bedenkein eines „lyrischen“ und immer wieder auch philosophischen Problemkreises mit einem Satz das erlösende Wort und die tiefere Weisheit emporsprießen zu lassen — so, wenn er in seinem hoffnungsvollen Gedicht „Germanien“ sagt: Muß zwischen Tag und Nacht Einstmals ein Wahres erscheinen

Dreifach umschreib du es Doch ungesprochen auch, wie es da ist,

Unschuldige, muß es bleiben. Schon im Übergang zu Hölderlins später Schaffensperiode deutet sich diese Dichtungsart an, in der blitzartig das Wahre aufleuchtet. Im kleinen Gedicht „An die Deutschen“ lesen wir:

... Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt, Aus Gedanken die Tat? Leben die

Bücher bald? Im gleich kurzen Gedicht, in dem er Sokrates und Alcibiades miteinander konfrontiert, blitzt die Weisheit auf: Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste ... Und es neigen die Weisen Oft am Ende zu Schönem sich. In der großen Christus-Hymne „Patmos“ beginnt ein ^ -uchstück späterer Fassung:

... Voll Güf ist; keiner aber fasset Allein Gott.

Wo aber Gefahr ist, wächst

Das Rettende auch.

Und in dem gleichen Bruchstück finden wir die Zeilen:

Es sah aber der achtsame Mann

Das Angesicht Gottes,

Damals, da beim Geheimnisse des

Weinstocks sie Zusammensaßen, zu der Stunde des

Gastmahls. Und in der großen Seele, wohlauswählend, den Tod Aussprach der Herr, und die letzte

Liebe, denn nie genug Hätt' er, von Güte zu sagen Der Worte, damals, und zu bejahn

Bejahendes... Aber sein

Licht war Tod...

Das aber erkannt' er. Alles ist gut. Darauf starb er.

In einer späteren Fassung der Hymne „Der Einzige“ ist wiederum von Christus die Rede, die Gedanken schwingen zwischen Himmel und Erde, und dann leuchtet der Satz auf:

Immerdar gilt dies, daß, alltag ganz ist die Welt. Das ist die letzte Perspektive auf die Rechtfertigung der Welt, als eines Ganzen, und ihres Sinnes.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung