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Sprache und Ethik brauchen ein Gegenüber

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Anläßlich des Wittgenstein-Symposiums 1995 in Kirchberg am Wechsel („Die Kultur und die Werte”) sprach die furche mit Elisabeth Leinfellner, der Präsidentin der Wittgenstein-Gesellschaft in Osterreich.

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Anläßlich des Wittgenstein-Symposiums 1995 in Kirchberg am Wechsel („Die Kultur und die Werte”) sprach die furche mit Elisabeth Leinfellner, der Präsidentin der Wittgenstein-Gesellschaft in Osterreich.

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DieFurche: In der Schlußpassage des Traktats, der wohl berühmtesten logisch-philosophischen Abhandlung Wittgensteins, heißt es: „Es kann keine Sätze der Ethik geben ” Ist dies als eine rigorose Absage an prinzipiell jede Ethik zu sehen?

Elisabeth Leinfellner: Wittgenstein vertritt im Traktat die Meinung, daß nur gesagt werden kann, was klar zu sagen ist, und das sind die Sätze der Naturwissenschaft. Das schließt die Ethik und die Ästhetik aus. Heute würde man sagen, daß das ein überholter Standpunkt ist. Heute kann man Ethik auch wissenschaftlich betreiben; auf der Basis von Biologie, Entscheidungstheorie, Spieltheorie... - das sind hochmathematisierte Theorien, wo auch etwas über die Lösung ethischer Probleme ausgesagt werden kann, und zwar wissenschaftlich.

DieFurche: Wittgenstein hat sich später.vom eher apodiktischen Ton seines 'Traktats distanziert Gibt es da auch bezüglich der Ethik einen Unterschied in der Auffassung?

Leinfellner: Früher hat er gesagt, sagbar ist nur, was klar ausdrückbar ist. Später sagt er, die Sätze der Sprache sind in Ordnung, so wie sie sind. Dann ergibt sich meiner Ansicht nach systematisch, daß ethische Sätze doch eher möglich sind, trotzdem hat Wittgenstein auch später kein umfassendes ethisches System entwickelt. Natürlich hat er eine Ethik vertreten. Er war zum Beispiel im Grunde ein religiöser Mensch, aber er war kein Mensch, der einer Kirche angehangen hat. Es wäre ganz falsch, ihn für irgendeine Kirche zu vereinnahmen, aber er hat doch in der Religion einen ganz großen Wert gesehen.

DieFurche: Hat es beim diesjährigen Symposion neue Erkenntnisse zur Ethik bei Wittgenstein gegeben? leinfellner: Ausgehend von Wittgenstein könnte man weiter entwickeln, daß die Ethik nicht so abstrakt betrieben werden soll. Sie können ja nicht ethische Normen aufstellen, die dann kein Mensch zu befolgen imstande ist. Die Ethik ist dann nicht mehr etwas für alle Zeiten Festgeschriebenes, sondern etwas, das sich auch verändert, einen praktischen Bezug hat. Es gibt natürlich auch Elemente in der Ethik, die im Grunde genommen schon sehr, sehr alt sind. Es gibt die sogenannte Goldene Regel, die man bei uns normalerweise aus der Bibel herausliest: Was Du nicht willst, daß man Dir tu ... Das ist eine Regel, die sich als etwas Praktisches erwiesen hat, die heute noch in der Ethik eine Rolle spielt. Es gibt auch ein indianisches Sprichwort. Man soll über einen Menschen nicht urteilen, wenn man nicht dreißig Meilen in den Schuhen des anderen gegangen ist. Das ist eine Regel, die ist so praktisch, und so sinnvoll, daß sie sich immer und immer wieder bestätigt.

DieFurche: Muß aber nicht gerade im Wittgensteinschen Traktat der Eindruckentstehen, daß dieses In- den- an-deren-Versetzen verunmöglicht wird? leinfellner: Da ist etwas dran, aber wir sind eben kein Wittgenstein-Verehrungsverein. Wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Da hat er eben etwas übersehen, was wir anders sehen und wo wir uns im übrigen auf seine spätere Philosophie berufen können, mit ihren doch praktischeren Elementen.

DieFurche: Sie würden also diesen Solipsismus, der hier vom frühen Wittgenstein vertreten wird, in dieser Form nicht beflirworten?

Leinfellner: Natürlich kann man eine solipsistische Ethik vertreten. Es ist nur die Frage, was die Folgen sind. Die Folge einer völlig solipsistischen Ethik ist wahrscheinlich ein Chaos, nämlich jeder gegen jeden. So wie es nach Wittgenstein keine Privatsprache gibt, gibt es auch keine Ethik für eine Person. Selbst wenn Sie religiös sind und ein mystisches Gotteserlebnis haben, ist Gott ja in Person angesprochen. Sie kommen nie daran herum, daß Sie ein Gegenüber brauchen.

DieFurche: Die „Deutsche Viertel-jahresschrifi für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte” hat folgende Preisaufgabe ausgeschrieben- „Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen*” Wie sehen sie diese Frage? leinfellner: Eine wichtige Aufgabe der Kulturwissenschäften ist, daß sie Probleme von Multikulturismus und kultureller Identität in einem Sinne klären, der sich ethisch verantworten läßt. Man kann diese Probleme philosophisch nicht lösen, wenn man sich nicht auf solide empirische Untersuchungen der Einzelwissenschaften stützt. Andererseits können die Einzelwissenschaften allein oft die Probleme nicht so klar sehen. Die Philosophie durch ihre lange, lange Übung im Aufspüren von Problemen, kann die Probleme sehen und kann dann in Zusammenarbeit mit den Kulturwissenschaften und den empirischen Wissenschaften versuchen, Lösungen zu finden.

DieFurche: Wie denken Sie über Wittgensteins Allgemeingut gewordene Empfehlung „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man Schweigen

Leinfellner: Es gibt bei Wittgenstein Sachen, über die man schweigen muß, und Sachen, über die man nicht schweigen muß. Die Naturwissenschaft ist etwas, über das man nicht schweigen muß, und dann gibt es die Gebiete, wo man schweigen muß, aber ich halte von dieser Schweigerei nichts. Das ist nicht die Art und Weise, wie die Welt gebaut ist. Der Mensch ist nicht zum Schweigen geboren. Er ist ein homo loquens, der Mensch redet und er redet gerne. Die Sprache ist sicher einer der Gründe, warum sich der Mensch so über die Welt verbreitet hat, auch an Orte, wo er im Grunde sonst nicht überleben können.

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