Das bedeutet, lebendig begraben zu sein

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Vor 75 Jahren starb der Schriftsteller Michail Bulgakow in Moskau. Seine Briefe und Tagebucheinträge aus den Moskauer Jahren 1921 bis 1940 zeugen von Taktiken in einem totalitären System, vor allem aber von Zermürbung und Zerstörung durch Zensur.

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Vor 75 Jahren starb der Schriftsteller Michail Bulgakow in Moskau. Seine Briefe und Tagebucheinträge aus den Moskauer Jahren 1921 bis 1940 zeugen von Taktiken in einem totalitären System, vor allem aber von Zermürbung und Zerstörung durch Zensur.

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Nach fast zehn Jahren bin ich mit meinen Kräften am Ende", schreibt Michail Bulgakow im Juli 1929 an niemand Geringeren als Josef Stalin, "außerstande, weiterhin zu existieren, abgehetzt, wissend, dass ich innerhalb der UdSSR weder gedruckt noch aufgeführt werde, dem Nervenzusammenbruch nahe, wende ich mich an Sie und bitte um Ihre Fürsprache bei der Regierung der UDSSR, MICH ZUSAMMEN MIT MEINER FRAU L. J. BULGAKOWA, die sich dieser Bitte anschließt, AUS DER UDSSR AUSZUWEISEN." Zwar wird Stalin eines Tages sogar bei Bulgakow anrufen und dabei wird die Formulierung fallen: "Vielleicht sollten Sie wirklich ins Ausland reisen..."- doch Bulgakows Ansuchen wird nie stattgegeben werden.

Vorangegangen sind diesem verzweifelten Brief Bulgakows Aufführungsverbote seiner Theaterstücke, Verhinderung von Herausgaben seiner Prosa, Verhör bei der OG-PU, eine Haussuchung, "wobei die drei Hefte meines Tagebuchs und das einzige Exemplar meiner satirischen Erzählung 'Hundeherz' beschlagnahmt wurden", sowie wütende Beschimpfungen in der Presse. Und zahlreiche Ansuchen des Autors, ins Ausland zu reisen, die alle abgelehnt wurden.

Statt Medizin Literatur

Der Schriftsteller, dessen Meisterwerk "Meister und Margarita" heute zu den Klassikern zählt, wird 1891 in Kiew geboren. Er studiert Medizin, meldet sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger beim Roten Kreuz, seine Erfahrungen im Russischen Bürgerkrieg werden später in den Roman "Die weiße Garde" fließen. Die Medizin gibt der Arzt zugunsten der Literatur auf, im Herbst 1921 zieht er nach Moskau. Er eignet sich nicht zum Parteiprogrammschriftsteller, nicht nur wegen seiner satirischen Ader. Zu sehr, wie er immer wieder betont, liegt ihm auch an den russischen Intellektuellen, an der europäischen Literatur -weswegen er so gerne europäische Länder und Kulturen bereisen würde. Er träumt vom Mittelmeer, von Paris, von Reisetexten, die er dort verfassen würde. Seinen Bruder, der in Paris lebt, bittet er, für sein Buch über Molière an Schauplätzen zu recherchieren, weil es ihm selbst verwehrt ist. "Mir ist die Psychologie des Häftlings aufgezwungen", schreibt er in einem weiteren Brief an Stalin. "Wie soll ich mein Land besingen, die UdSSR?" Stalin lässt Bulgakow zwar nicht verbannen, inhaftieren oder gar hinrichten, doch ausreisen darf Bulgakow nicht. Er ist und bleibt ein Gefangener. Auch dass Bulgakow Stalin ein Theaterstück widmet, hilft ihm nicht.

Es folgen verzweifelte Ansuchen an den Chef der Hauptverwaltung Kunst, an den Sekretär des ZEK der UdSSR und an Alexej Maximowitsch Gorki. Am 2. Oktober 1929 bittet Bulgakow die Leitung des Allrussischen Schriftstellerverbands knapp, ihn aus der Mitgliederliste zu streichen.

In der Zusammenstellung von Tagebuchauszügen und Briefen aus den Jahren 1921-1940, die nun -leider nicht sorgfältig editorisch begleitet -unter dem Titel "Ich bin zum Schweigen verdammt" im Luchterhand Literaturverlag erschienen sind, fällt vor allem jener Brief auf, mit dem sich Bulgakow an die Regierung der UdSSR wendet. Darin schreibt er am 28. März 1930, dass er von vielen den Rat bekommen habe, ein "kommunistisches Stück" zu verfassen und sich in einem Reuebrief an die Regierung von seinen früheren, in literarischen Werken geäußerten Ansichten loszusagen. "Diesen Rat habe ich nicht befolgt. Es würde mir kaum gelingen, mich bei der Regierung der UdSSR in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, indem ich einen verlogenen Brief schreibe, der ein unsauberer und noch dazu naiver politischer Schachzug wäre. Versuche, ein kommunistisches Stück zu schreiben, habe ich ebenfalls nicht unternommen, weil ich zuverlässig weiß, dass mir ein solches Stück nicht gelingen würde." Dann führt Bulgakow Beispiele an von jenen Beschimpfungen, die ihm in der Presse widerfahren sind, und zwar um zu "beweisen, dass die gesamte Presse der UdSSR und mit ihr sämtliche Behörden, die mit der Kontrolle des Repertoires beauftragt sind, in all den Jahren meiner literarischen Arbeit einmütig und mit UNGEWÖHNLICHER WUT zu beweisen versuchten, dass die Werke Michail Bulgakows in der UdSSR nicht existieren können. Und ich erkläre, dass die Presse der UdSSR VÖLLIG RECHT hat."

Dass die deutsche Presse Bulgakows "Purpurinsel" als "ersten Aufruf zur Pressefreiheit" bezeichnet hat, erwähnt Bulgakow in diesem Brief ebenfalls und setzt bekennend nach: "Der Kampf gegen die Zensur, wie sie auch sei und unter welcher Macht sie auch existiert, ist meine Pflicht als Schriftsteller, ebenso wie Aufrufe zur Pressefreiheit." Er ist Satiriker geworden, "und das in einer Zeit, in der eine wirkliche (in verbotene Zonen vordringende) Satire in der UdSSR absolut undenkbar ist", zitiert Bulgakow raffiniert den Artikel eines anderen und fasst dessen Sinn in die Formel: "JEDER SATIRI-KER IN DER UDSSR VERÜBT ANSCHLÄGE AUF DIE SOWJETMACHT." Und dann stellt Bulgakow seine gefährliche Frage an die Regierung: "Bin ich in der UdSSR denkbar?"

Ökonomische Katastrophen

Die Unmöglichkeit zu schreiben bedeutet für Bulgakow, "lebendig begraben zu sein". Dass kein Werk gedruckt und kein Stück aufgeführt wird, zieht zudem ökonomische Katastrophen nach sich. Der Autor muss im Fall eines Verbots durch die Zensur den Vorschuss jeweils zurückzahlen. Er nimmt Aufträge zu Dramatisierungen an und leidet, wie man seinen Briefen entnehmen kann, darunter sehr. "Dramatisierungen von Literatur sollen für alle Zeiten verflucht sein!"

In seinen Tagebucheinträgen, die nach der Beschlagnahmung 1926 aufhören, kommen auch Bulgakows Blicke auf Außenund Innenpolitik zur Sprache. Am 24. Mai 1923 notiert er etwa, es rieche nach Konflikt und sogar nach Krieg. Im Dezember 1924 schreibt er gegen die sowjetische Fortschrittsideologie: "Wohnungen, Familien, Wissenschaftler, Arbeit, Komfort und Nutzen, all das ist Tod. Nichts rührt sich vom Fleck. Die sowjetische Bürokratie, dieser Höllenschlund, hat alles aufgefressen. Jeder Schritt, jede Bewegung eines Sowjetbürgers ist eine Folter, die Stunden, Tage, mitunter Monate verschlingt."

Meisterwerk postum erschienen

"Starke und tapfere Menschen brauchen Gott vielleicht nicht, aber solche wie ich haben es mit dem Gedanken an ihn leichter", notiert der später an Neurasthenie leidende Autor 1923 in sein Tagebuch. Die Situation zehrt an seiner Gesundheit. "Ich bin gerade erst aus dem Sanatorium zurück", schreibt Bulgakow, an Nephrosklerose erkrankt, die ihn erblinden ließ, in einem Brief an einen Freund am 28. Dezember 1939. "Was mit mir ist? Offen und im Vertrauen gesagt, an mir nagt der Gedanke, dass ich zurückgekehrt bin, um zu sterben." Er hat nicht Unrecht. Am 10. März 1940 stirbt Michail Bulgakow in Moskau. Sein Meisterwerk "Meister und Margarita", das er in jenen schlimmen Jahren verfasst und mit dem er in die Literaturgeschichte eingehen wird, erscheint erst 26 Jahre nach seinem Tod -zensuriert.

Ich bin zum Schweigen verdammt Tagebücher und Briefe von Michail Bulgakow Aus dem Russ. von Renate Reschke und Thomas Reschke. Einleitung, Nachwort und Anm. aus dem Engl. von Sabine Baumann. Luchterhand Literaturverlag 2015.351 S., geb., € 25,70

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