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Ohne Freiheit keine Kunst

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Der Direktor des legendären Moskauer Taganka-Theaters wurde vor kurzem abgesetzt. Steht die Ausbürgerung des Künstlers aus der Sowjetunion unmittelbar bevor?

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Der Direktor des legendären Moskauer Taganka-Theaters wurde vor kurzem abgesetzt. Steht die Ausbürgerung des Künstlers aus der Sowjetunion unmittelbar bevor?

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Die Londoner „Times" bestätigt dem Gast „Rußlands größte Theaterfigur und möglicherweise der außerordentlichste Theaterdirektor der Welt" zu sein. Juri P. Ljubimow, dem dieses ehrenvolle Prädikat gilt, weilt zur Zeit in

London, vielleicht wählt er die britische Hauptstadt zu seiner zweiten Heimat. Dort erreichte ihn Anfang März die Nachricht, daß er von den Behörden als Leiter des Moskauer Taganka-Thea-ters abgesetzt und durch den Kollegen Anatoli Efros, bisher am

Theater an der Malaja Bronnaja, ersetzt worden sei. Die Absetzung trifft den Regisseur hart: „Ein Schock sicherlich. Als er, Efros, seinen Job verlor, stand ich ihm bei. Nun stellt sich heraus, daß ihm dieser Posten aufgezwungen worden ist. Wie traurig!"

Nicht gegen den Nachfolger, wohl aber gegen Perfidie und Engstirnigkeit der sowjetischen Kulturbürokraten richtet sich der Groll: „Welches Maß von Haß muß sich bei ihnen angesammelt haben, daß sie jetzt wider alle Vernunft und gegen jegliches Verständnis handeln?" So spricht einer, der jahrzehntelang den Kulturgewaltigen im Kreml getrotzt und Aufführungen auf die Beine gestellt hat, die vordem im

Osten ohne Chance waren, je von der Zensur zugelassen zu werden.

Seit September ist Ljubimow im Westen, nachdem ihm von den Heimatbehörden ein Genesungsurlaub zugestanden worden war. In London inszenierte er am „Ly-rik"-Theater Hammersmith, die dramatische Fassung von Dostojewskis „Schuld und Sühne". Diese Aufführung — deutschsprachige Premiere ist kommenden Oktober am Wiener Burgtheater -trug Ljubimow den „Standard-Drama-Award" für die beste Regie ein. An der Mailänder Scala setzte er Ende letzten Jahres die Oper „Boris Godunow" in Szene. In wenigen Tagen folgt Florenz mit „Rigoletto".

Ob er jetzt noch nach Moskau zurückwolle, schließlich kommen Gerüchte nicht zur Ruhe, daß er sich in den Westen abzusetzen trachte? Tschernenkos erstes Opfer winkt ab: um politisches Asyl werde er nicht ansuchen.

„Was wollen Sie, daß ich dort um eine klägliche Pension bettle? Ich brauche die Pension nicht, ich habe mein ganzes Leben ohne Hilfe von .denen' gelebt. Meine einzige Sorge ist die russische Kultur. Viele meiner Landsleute sind jetzt in der Emigration, und der geniale Wissenschaftler Sacharow wurde nach Gorki ins Exil verbannt, er ist hilflos. Das zerstört die Selbstachtung in unserem Land. Werden sie je zur Vernunft kommen?"

Heimweh verfolgt ihn — nach den Freunden, den Verwandten, nach Bruder und nach dem Sohn aus früherer Ehe, vor allem aber nach seiner großen Liebe, dem Taganka-Theater. Das Komödientheater am Tagankaplatz, wie es mit vollem Namen heißt, ist Avantgarde-Bühne und Experimentierschauspiel zugleich, vom Kreml als eine Art von Sicherheitsventil für intellektuelle Anstauungen geduldet, von hohen Parteifunktionären so gerne besucht wie vom begeisterten Publikum, das sich um sündteure Karten auf dem schwarzen Markt reißt. Taganka, das ist Ljubimow, gleichzeitig sein ständiger Kampf mit der Bürokratie. Nur er weiß, wieviel Geduld und Hartnäckigkeit investiert werden mußte, um die Spielbewilligung zu erlangen. Das kleine Theater mit den großen Aufführungen: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten", das Revolutionsepos von John Reed; Brechts „Galileo Galilei"; Trifo-nows Satire auf sowjetische Wohnungen „Der Tausch"; schließlich die größte Sensation für sowjetische Begriffe: „Der Meister und Margarita", Dramatisierung des bis 1965 verbotenen allegorischen Romans von Michail Bulgakow, Opfer von Stalins Terror. So etwas hat es in sowjetischer Theatergeschichte noch nicht gegeben: Christus auf der Bühne, die Kreuzigung, des Teufels Hohngelächter auf Parteispießer und sowjetisches Kleinbürgertum der dreißiger Jahre. Bei der Premiere 1977 und der späteren Fortsetzung im Freien: Miliz und Straßensperren hielten jeweils Hunderte vergeblich um Karten bettelnde Enthusiasten zurück.

Die bleibende Trennung von „seinem Theater", die mögliche Expatriierung wären schmerzlich. Für einen 66jährigen ohne Fremdsprachenkenntnisse ist es nicht so einfach, sich in einer neuen Welt einzuleben. Und auch ein außerordentliches schöpferisches Talent wie Ljubimow kann nicht so ohne weiteres auf den geistigen Nährboden seiner Heimat verzichten.

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