Eine Verfassung als "heiliger" Text?

Heilig ist Gott und sein Wort, die Bibel. So habe ich es gelernt. Wir Geschöpfe sind gewissermaßen sekundär heilig, weil wir die Ehre haben, von Gott gewollt zu sein.

Tabu ist im Prinzip nichts, denn "mir ist alles erlaubt" (1 Kor 6,12). Dieser weltbewegende Satz des Paulus allerdings hat eine Fortsetzung: "Mir ist alles erlaubt, es frommt aber nicht alles. Mir ist alles erlaubt, es soll mich aber nichts gefangen nehmen." Von bestimmten Dingen also soll ich die Finger lassen, weil sie mir und anderen nicht guttun. Wovon genau? Darüber sollen wir, angeleitet von der Schrift, gemeinsam nachdenken. In Tat und Wahrheit entscheiden allerdings meist gängige Sitten und Anstand darüber, was frommt. Calvin zum Beispiel findet, dass Frauen, wenn sie ausnahmsweise etwas Wichtiges zu sagen haben, schon auch mal öffentlich das Wort ergreifen dürfen. Normalerweise aber ist das natürlich nicht der Fall (1 Kor 14, 34).

Wie soll ich Frauen erklären, dass ein Text, der sie mit großer Selbstverständlichkeit zu Menschen zweiter Klasse degradiert, heilig ist? Meistens gelingt es mir nicht. Die meisten Frauen, mit denen ich zu tun habe, sind nicht bereit, die entsprechenden intellektuellen Turnübungen mitzumachen. Wozu auch? Dann sitze ich wieder einmal alleine da mit meiner verschrobenen Gewissheit, ohne das Heilige Buch nicht leben zu können, trotz allem. - Und dann ereilt mich die Überraschung aus der Ferne, kürzlich in Form eines Textes von Gloria Kehilwe Plaatje. Die südafrikanische Theologin schlägt vor, die Post-Apartheid-Verfassung zum heiligen Text zu erklären. Ein Befreiungsschlag, der es südafrikanischen Frauen erlauben würde, die heilsame Richtung in der Bibel endlich eindeutig zu erkennen. Indem sie dem herkömmlich Heiligen einen Maßstab anlegen, den sie selbst erkämpft haben.

* Der Autorin ist Germanistin und evangel. Theologin in der Schweiz