Erinnerung, tief im Körper

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Eigentlich wollte er die Medizin revolutionieren und das menschliche Seelenleben streng auf der Grundlage von Nervensignalen beschreiben. Doch Sigmund Freud, dem ehrgeizigen Nervenarzt aus Wien, fehlten noch die Mittel für diese groß angelegte Vision. Stattdessen begründete er die Psychoanalyse, eine therapeutische Richtung, die viel Inspiration aus Kunst und Literatur bezog und bis heute zahlreiche Geisteswissenschafter fasziniert. Freuds ursprüngliche Vision freilich wirkte auch in seinen späteren Texten nach. "Das Ich ist vor allem ein körperliches", hielt der Seelenforscher fest.

Diese Aussage erhält heute, in der Ära der modernen Hirnforschung, neues Gewicht. Und Studien zeigen, dass Körperlichkeit auch bei der Begegnung zweier "Ichs" prägend ist, ob man das nun will oder nicht. Die Entdeckung der Spiegelneuronen etwa hat gezeigt, wie Beziehungsprozesse unmittelbar und "vorbewusst" ablaufen: Man übernimmt zum Beispiel die Stimmung von einem lachenden oder traurigen Gesicht, schneller, als das Denken darauf reagieren kann.

Heftige Emotionen

"Im persönlichen Austausch werden rund zwei Drittel der Informationen non-verbal kommuniziert", sagte Stephan Doering bei den "Maimonides Lectures" an der Akademie der Wissenschaften in Wien. "Für die therapeutische Begegnung ist diese 'verkörperte Kommunikation' hochrelevant", so der Vorstand der Uni-Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie in Wien. Es gibt Hinweise, dass dabei auch Geruchswahrnehmungen eine wichtige Rolle spielen; sie könnten etwa die Intuition und Empathie des Analytikers begünstigen. Selbst bei den Erinnerungen zeigt sich, wie viel Körperlichkeit im Geist steckt. Gerade bei traumatisierten Menschen ist das Konzept der "verkörperten Erinnerung" aufschlussreich, denn die Spuren der schlimmen Ereignisse in der Vergangenheit werden von ihnen als körperliche Empfindungen gespeichert, die wie eine Bedrohung für das aktuelle Leben erfahren werden. Traumatische Erinnerungen sind verbunden mit wiederkehrenden Körperempfindungen, begleitet von heftigen Emotionen wie Angst, Scham oder Wut. In der Therapie geht es darum, die früheren schädlichen Beziehungsmuster mit alternativem Ausgang neu zu inszenieren. Die Beziehungserfahrung entfaltet dann heilsame Wirkung, betonte Doering.

Doch Erinnerungen sind auch ohne Traumatisierung tief im Körper abgelegt. Belege für "verkörperte Erinnerungen" finden sich auch in literarischen Werken, so der Psychoanalytiker: Wie Geruchseindrücke verschüttete Gedächtnisspuren unverhofft wieder zu Bewusstsein bringen können, lässt sich etwa in Marcel Prousts Meisterwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" exemplarisch nachvollziehen.

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