Große Preise kommen meist zu spät

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Bei den Filmfestspielen in Cannes siegt mit Jacques Audiards "Dheepan" das französische Kino -und die Bescheidenheit, man glaubt es kaum.

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Bei den Filmfestspielen in Cannes siegt mit Jacques Audiards "Dheepan" das französische Kino -und die Bescheidenheit, man glaubt es kaum.

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In Cannes, das ist längst kein Geheimnis mehr, bekommen große Regisseure große Preise -aber nicht unbedingt für ihre größten Filme. Eine Jury kann den Wink der Zeit verschlafen, aber wenn man das wichtigste Filmfestival der Welt ausrichtet, dann, bitte schön, muss es auch dann und wann zur Mythenbildung beitragen. Michael Haneke etwa hätte bereits für "Funny Games" (1997) die Palme bekommen können, sie aber spätestens für "Caché"(2005) bekommen müssen, und bekam sie schließlich zweifach für seine exzellenten Arbeiten "Das weiße Band" und "Amour" - doch beide waren nicht seine besten Filme.

Goldene Palme für Jacques Audiard

Genau wie im Fall des diesjährigen Gewinnerfilms "Dheepan" von Jacques Audiard. Der hätte hier 2009 für "Un prophete" gewinnen müssen, damals war aber Haneke an der Reihe. Sein Film "Der Geschmack von Rost und Knochen", zwei Jahre später, war einfach zu schwach. Kein Wunder also, dass Audiard sich diesmal mit den Worten bedankte: "Merci Michael Haneke, dass er dieses Jahr keinen Film gemacht hat." Audiards Film passte den Brüdern Joel und Ethan Coen, die heuer als Jurypräsidenten fungierten, zudem durchwegs ins Konzept:

In "Dheepan" geht es um einen Mann (Jesuthasan Antonythasan), der unter falschem Namen, mit einer "falschen" Frau und "falschen" Tochter aus Sri Lanka nach Frankreich flüchtet, weil "Familien leichter Asyl gewährt wird". Auf der Einwanderungsbehörde hilft der Übersetzer Dheepan ebenfalls beim Lügen: Ein Leben ohne Krieg wolle er, sagt Dheepan, vor kurzem selbst noch Tamil-Kämpfer, Folterer, Mörder. Tatsächlich sind es provokante Verschiebungen der Blickwinkel, die diesen Film bereichern. Dheepan will aus der Scheinfamilie eine echte machen, weil er an sein Recht auf ein gutes Leben glaubt -und gerade in Zeiten der Quoten-Diskussion, wirkt dieser Film wie weiterer Zündstoff. Audiard zeichnet Dheepans Weg in Frankreich zuerst sozialrealistisch, teils semi-dokumentarisch und mit Raum sogar für Humor. Dheepan und seine kleine "Familie" kommen in einem Betonblock-Getto in einem Pariser Vorort unter, wo Dheepan als Hausmeister arbeiten kann. Erst am Ende stellt Audiard seinen Protagonisten doch noch eine gute Zukunft und eine echte Liebe in Aussicht: Ein grüner Garten in England ist eben für viele schon das Paradies.

"Saul Fia": bester Film, nicht der Hauptpreis

Die Hölle hingegen porträtiert László Nemes in seinem Regiedebüt "Saul Fia", das mit dem zweiten Preis des Festivals nach Hause geschickt wurde: dem Grand Prix. Die Coens haben hier schlichtweg den eigentlichen Sieger dieser Filmschau übersehen, denn niemand vor Nemes hat die Schoa dermaßen brutal und schockierend dargestellt, ohne dabei auf künstliche Effekte zurückgreifen zu müssen. Man erlebt den KZ-Alltag in Auschwitz durch die Augen eines jüdischen Mitarbeiters eines Sonderkommandos, der damit befasst ist, die Gaskammern von den Toten und ihren Exkrementen zu säubern. Weil Nemes' Kamera aber stets ganz nah auf dem Kopf seines Protagonisten verweilt, ist die Umwelt nur in Schemen wahrnehmbar -und Nemes delegiert das Grauen (oder die Vorstellung davon) an die Zuschauer. Jeder Zuschauer durchlebt hier seine ganz eigene Schoa. "Saul Fia" ist eine der innovativsten Arbeiten der jüngeren Filmgeschichte -und gerade deshalb ist der zweite Preis in Cannes so enttäuschend. Ist dem erst 38-jährigen Ungarn Nemes ein Zufallstreffer geglückt, oder läutet er ganz offiziell einen Paradigmen-und Generationenwechsel ein, wenn es um die Darstellung der Schoa geht?"Saul Fia" ist jedenfalls einer der wichtigsten Filme der letzten 20 Jahre.

Die weiteren Preisträger(innen)

Weniger wichtig sind die weiteren Preisträger eines bemühten Wettbewerbs mit wenigen herausragenden Arbeiten: Ein Jury-Preis für den Griechen Yorgos Lanthimos für "The Lobster", zwei Schauspielerinnen-Preise für Rooney Mara (in dem faden "Carol" von Todd Haynes) und Emmanuelle Bercot (für den noch faderen "Mon Roi" von Maiwenn), sowie einen unverständlichen Regiepreis für Hou Hsiao-Hsien, dessen "Assassin" durchs 9. Jahrhundert in China schwebt.

Nur für einen darf man sich aus ganzem Herzen freuen: Als bester Darsteller wurde Vincent Lindon prämiert, für das Sozialdrama "La loi du marché" von Stéphane Brizé.

Lindon ist der Inbegriff des "Hacklers", wenn es im französischen Kino um die Arbeiterklasse geht. Niemand spielt soziale Schicksale so gut wie er, obwohl Lindon aus wohlhabenden Verhältnisse stammt. Doch das ehrt ihn umso mehr: Bei der Preisverleihung rang Lindon mit den Tränen der Demut. "Mein erster Preis überhaupt", stammelte Lindon. Bescheidenheit, weiß er, hat ihn letztlich zum Ziel geführt.

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