Pluralismus gegen Cliquenbildung

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Der Nachlass des Autors und literarischen Mentors Gerhard Fritsch in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek bietet Einblick in die österreichische Literaturszene der 1950er und 1960er Jahre.

Im Herbst vergangenen Jahres war der Ankauf des literarischen Nachlasses von Gerhard Fritsch (1924-1969) durch die Wiener Stadt- und Landsbibliothek Anlass erregter öffentlicher Debatten. Man kann über die Angemessenheit des Kaufpreises von 654.075 Euro unterschiedlicher Meinung sein, die Bedeutung Gerhard Fritsch steht hingegen außer Zweifel, und man darf sich von der Aufarbeitung des sowohl qualitativ als auch quantitativ außergewöhnlichen Nachlasses einzigartige Einblicke in die Geschichte der österreichischen Literatur der 50er und 60er Jahre erwarten.

Gerhard Fritsch kommt zunächst als Literaturvermittler zentrale Bedeutung zu. So stellte er als Redakteur bei "Wort in der Zeit" den bisher vom offiziellen literarischen Österreich totgeschwiegenen Autoren der "Wiener Gruppe" Publikationsraum zur Verfügung, was damals einen großen Skandal verursachte. Danach gab er zusammen mit der jüngst verstorbenen Jeannie Ebner die bis heute erscheinende Literaturzeitschrift "Literatur und Kritik" heraus und begründete zusammen mit Otto Breicha die "Protokolle", das unbestrittene Organ der heimischen Avantgardeliteratur. Sein Erfolg als Förderer junger Talente beruht vor allem auf der damals wie heute selten anzutreffenden Eigenschaft, allein literarische Qualität zum Kriterium der Beurteilung zu machen und persönliche Vorlieben hintanzustellen, wodurch er fernab jeglicher Cliquenbildung in vorbildlicher Weise literarischen Pluralismus vorlebte.

Das eigene literarische Werk ist schmal, aber vielschichtig. Sein erster Roman "Moos auf den Steinen" (1956) wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen und auch verfilmt, doch scheint dieser äußere Erfolg auf einem breiten rezeptionellen Missverständnis, einem vermeintlich restaurativen Österreichbild zu beruhen.

In seinem zweiten Roman "Fasching" (1967) räumte Fritsch mit diesem Missverständnis gründlich auf; er erzählt von Faschisten im Faschingskostüm, von einem Deserteur, der die letzten Kriegswochen als Mädchen verkleidet überlebt, unfreiwillig zum Helden wird und letztlich doch als Opportunist scheitert. Dieser groteske Heimkehrerroman verletzte in der schonungslosen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und seiner sexuellen Freizügigkeit derart viele Tabus, dass er zur Zeit seiner Entstehung zum Flop werden musste - und heute unangefochten zu einem der wichtigsten Romane der österreichischen Nachkriegsliteratur zählt. Gerade die Einsicht in massenpsychologische Phänomene trug ihm auch das ausdrückliche Lob Elias Canettis ein. In seinem letzten Roman "Katzenmusik" verlegt Fritsch seine Gesellschaftskritik wesentlich auf die Sprachkritik, Handlung findet als Sprachhandlung statt. Doch der Roman bleibt Fragment, Gerhard Fritsch nahm sich am 22. März 1969 das Leben. Die gegenwärtig in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek ausgestellten wichtigsten Stücke seines Nachlasses mögen als Anlass dienen, sich mit dieser zentralen Persönlichkeit der österreichischen Kulturszene wieder oder neu zu befassen.

Der Nachlass von Gerhard Fritsch ist in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek für öffentliche Benützung zugänglich.

Rathaus, 1010 Wien

www.stadtbibliothek.wien.at

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