Schwarzer Satiriker des Holocaust

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Wenn man mit ihm in einer Berliner Kneipe gesessen ist, erinnert man sich noch nach Jahren daran. Der unscheinbare kleine Mann mit dem Schnurrbart und der Baskenmütze beeindruckt durch seinen Blick und die Atmosphäre, die seine Anwesenheit schafft.

Dichte Atmosphäre, gute Charaktere, Spannung und unverwechselbare Dialoge sind Edgar Hilsenraths Ideal des Erzählens, und seine Romane lösen dieses Ideal ein. "Das Märchen vom letzten Gedanken" erzählt - zum ersten Mal in der deutschen Literatur seit Franz Werfels "Die vierzig Tage des Mussa Dagh" - vom Völkermord an den Armeniern. Seine anderen Bücher handeln fast alle vom Genozid, den er selbst überlebt hat: dem an den Juden.

Der autobiographische Roman "Die Abenteuer des Ruben Jawlonski" beschreibt seine Lebensstationen: die Flucht zu Verwandten in Rumänien, die Deportation in das ukrainische Lager Moghilev-Podolsk, die Reise mit gefälschten Papieren nach Palästina, das Wiederfinden der Familie in Frankreich und die Auswanderung in die usa.

Die verdrängte Vergangenheit, das scheinheilige schlechte Gewissen verlangte lange, dass Juden, zumal kz-Häftlinge, als literarische Figuren positiv, integer, am besten bemitleidenswert dargestellt würden - eine Erwartung, mit der Hilsenraths erster Roman "Nacht" (deutsch erstmals 1964) radikal brach. Er beschreibt ein lange unbeachtetes Kapitel der Ermordung der Juden: Nach dem Fall von Odessa hatte Deutschland dem faschistischen Rumänien einen Teil der Ukraine überlassen, wohin die Juden deportiert wurden, um an Hunger, Kälte und Siechtum zu sterben. "Nacht" ist eine Chronik der Dehumanisierung der Opfer, der grausamen Überlebens-und Todeskämpfe der Juden. Hilsenrath selbst versteht es als "das erste Buch, das in Deutschland mit der philosemitischen Tradition in der Literatur brach und das Leben in einem jüdischen Getto so schilderte, wie es wirklich war". Prompt warf man dem Roman eine Verunglimpfung der jüdischen Opfer vor. Erst jetzt ist die Zeit reif für eine Verfilmung - es wird aber noch ein paar Jahre dauern, bis sie zu sehen ist.

Täter als Opfer kostümiert

Hilsenraths zweiter Roman "Der Nazi & der Friseur" erschien erst 1977 in einem deutschen Kleinverlag, fünf Jahre nach der englischen Übersetzung und nachdem er international eine Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren erreicht hatte. Diese "erste schwarze Satire über die Nazizeit und den Staat Israel" (Hilsenrath) ist die Geschichte des ss-Massenmörders Max Schulz, der nach dem Krieg in die Rolle seines Opfers und ehemaligen Schulkameraden Itzig Finkelstein schlüpft; er lässt sich beschneiden und eine kz-Nummer tätowieren, und weil er aussieht wie eine "Stürmer"-Karikatur, gibt es keine Probleme - der Auftritt vor einer Kommission gelingt perfekt und entlarvt so die Prüfung als Groteske. Er wandert nach Palästina aus, wo er Inhaber eines Frisiersalons und militanter Zionist wird. Erst als alternder Mann wird er von Gewissensqualen heimgesucht, aber als er sich selbst als Mörder bezichtigt, glaubt ihm niemand - man hält sein Verhalten für eine Spätfolge seiner KZ-Zeit. Seine Strafe besteht darin, dass er ihr entgeht

80 Jahre ist Edgar Hilsenrath am 2. April alt geworden. Mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Hans-Sahl-Preis und vielen anderen Auszeichnungen wurde er geehrt, und der Dittrich Verlag Berlin bringt endlich sein Gesamtwerk heraus. "Berlin Endstation" heißt sein neues Buch - es handelt von der Rückkehr aus Amerika nach Berlin. Diese Stadt ist Hilsenrath seit 1975 zur zweiten Heimat geworden. CH

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