Von Spuren getragen
DISKURS"Immer bleibt einer übrig, der erzählt"
Stimmen wiedererwecken und gegen die systematische Auslöschung protestieren: Geschichten über das Unfassbare, den Völkermord.
Stimmen wiedererwecken und gegen die systematische Auslöschung protestieren: Geschichten über das Unfassbare, den Völkermord.
Der junge Tadeusz Moll hat verschlafen. Deswegen wird er auf einem Podest an einen Pfahl gestellt. Erst wenn an allen sechs Pfählen einer steht, wird gehenkt. "Sie waren nicht mehr bei uns, die Delinquenten. Noch nicht drüben und nicht mehr hier. Wie heißt jenes fremde Land an der Grenze?" Was Tadeusz beim Warten auf seine Hinrichtung in Crawinkel, einem Nebenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, gefühlt oder gedacht hat, kann keiner wissen: "Es gibt keine Antwort. Keiner, der unter jenem Galgen gestanden hat, konnte eine Nachricht hinterlassen oder auch nur ein Wort." Aber: "Vielleicht gibt es doch eine Antwort. Eine fiktive Antwort."
Was Fred Wander in seinem Roman "Der siebente Brunnen" beschreibt, ist eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Literatur überhaupt Geschichten erzählt von tatsächlich geschehenem grauenhaften Leid, von der Auslöschung von Menschenleben und vom Ermorden ganzer Stämme und Völker. Immer wieder suchen Literaten nach dieser fiktiven Antwort, machen Menschen, die selbst nicht mehr erzählen können, zu Figuren von Fiktionen, die damit aber nicht nur Fiktionen sind, sondern Geschichte weiterreichen. Und Opfern einen Namen geben, eine Stimme, ein Gesicht, eine Geschichte.
70 Jahre nach der Befreiung der Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager liest sich Wanders Roman als Beispiel dafür, wie Literatur Menschen mit den Geschichten auch ihre Individualität zurückgibt. "Wenigstens einige aus diesem Heer der Anonymität entreißen, einige Namen aufrufen, einige Stimmen wiedererwecken, einige Gesichter aus der Erinnerung nachzeichnen", so beschrieb Christa Wolf in einem Essay Wanders literarisches Vorgehen -und es steht wohl für viele Literaten, die versucht haben, dem Unsagbaren dennoch mit Sprache zu begegnen.
Gegen die Degradierung zur Nummer
Der 1917 als Fred Rosenblatt in Wien geborene Schriftsteller Fred Wander überlebte unter anderem Auschwitz und Buchenwald und schrieb "Der siebente Brunnen" erst 1971. Indem die Häftlinge einander ihre Geschichten erzählen, verweigern sie im Lager die Degradierung zur Nummer. Wenn sie nicht sprechen dürfen oder aus Schwäche nicht mehr können, träumen sie ihre Geschichten. Und indem Wander diese Geschichten Jahrzehnte später "erfindet", protestiert er schreibend gegen die systematische Auslöschung des Ichs und ganzer Menschengruppen, die in den Konzentrationslagern bis hin zum physischen Tod betrieben wurde. Erzählen ist eben nicht nur ein Erinnern im Sinn der Zeugenschaft oder Geschichtswissenschaft, sondern auch ein Akt des Widerstands gegen das Auslöschen der Identitäten, gegen die Vernichtung des Menschen, gegen die "Endlösung" dieses Massenmords.
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