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Die Mauer

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Wenn Hersey in seinen früheren Büchern sich vorwiegend als begabter und manchmal genialer Journalist und Reporter erwies, zeigt seine 1950 erschienene Geschichte des Warschauer Ghettos, „Der Wall”, ausgesprochen dichterische Elemente, ein sicheres Gespür für das Menschliche schlechthin und die Gabe, ergreifende menschliche Einzelschicksale in ihrer allgemeinen Bedeutung auch für die Zukunft, für uns sichtbar zu machen.

Hersey standen für dieses Buch auch ungewöhnliche, ja einmalige Quellen zur Verfügung: das umfangreiche Archiv des jüdischen Historikers Noah Levinson, der drei Jahre lang, also schon lange vor der Katastrophe seines Volkes beginnend, ausführliche Aufzeichnungen über seine Umwelt machte, die er zunächst für eine „Jüdische Geschichte” zu verwenden gedachte. In der Ghettozeit dann kam ein anderer Beweggrund für Levinsons archivarischen Eifer hinzu. Er scheint davon überzeugt gewesen zu sein, daß die Masse der Ghettobewohner als einziges Erbe nur ihre persönliche Geschichte hinterlassen würde — und so sammelte er, neben seinen ejgenen Eintragungen, Dokumente jeder Art, die helfen konnten, das jüdische Schicksal, das der Nationalsozialismus heraufbeschwor, späteren Generationen deutlich zu machen.

Dank einer geradezu genialen Vorsorge Levinsons, der sein Archiv im Ghetto vergrub und zuverlässigen Personen dort, aber auch im Ausland, genaue Angaben über den Ort des Versteckes machte, konnten die unersetzlichen Dokumente nach Kriegsende aufgefunden werden. Aus der Fülle dieses Materials, das er nur zu einem kleinen Teil verwenden kojmte, hat dann Hersey sein Buch geschrieben. In der sicher schwierigen Auswahl und Verdichtung ist ihm eine gültige Geschichte nicht nur des Warschauer Ghettos, sondern des jüdischen Schicksals überhaupt gelungen, der nicht genug Leser zu wünschen sind, die uns alle angeht und mit der uns auseinanderzusetzen wir verpflichtet sind. Dank der billigen deutschen rororo-Ausgabe ist sie ja nun jedem zugänglich geworden I

Hersey beschränkt sich in seinem Buch im wesentlichen auf jene Teile des Levinson-Archivs, die die Ghettozeit betreffen, jenen „entsetzlichen Kessel”, wie es einmal heißt, aus dem es nur für ganz wenige ein Entrinnen gab. Kurz werden die Monate vor den Ghettobestimmungen gestreift, in denen die Juden, trotz; der Cįernchte aus anderen Teilen Polens über ihįp systematische AusfottüHg,; noch sd ahnungslos waren über das, was ihnen bevorstand.’Sie konnten und wollten nicht an das ihnen zugedachte unmenschliche Schicksal glauben, und sie versuchten gar keinen Widerstand gegen die Zusammentreibung in jenen Teilen Warschaus, die später als Ghetto abgeschlossen wurden. Sie zersplitterten sich vielmehr in politische und religiöse Gruppen, die ein einheitliches Handeln unmöglich machten.

Am 21. April 1940 schreibt Noah Levinson:

„Das Vorgehen der Besatzungsbehörden beim Bau ‘ dieser Matter unterscheidet sich in nichts von dem auf allen anderen Gebieten — schrittweise wird alles ohne sichtbaren Zusammenhang ausgeführt. Da und dort, früher oder später. Gelegentlicher Raub jüdischen Vermögens; Verbot rituellen Schlachtens; Auflösung der Gemeinde und Bildung des Judenrates; Verbot des öffentlichen Gottesdienstes; Volkszählung; Registrierung zum Arbeitsdienst; Ghettoerlafl; Armbinden; Einfrieren der Bankkonten; Beschränkungen beim Wohnungswechsel; Anmeldung der Schmucksachen; Schließung von Schulen; Meldungszwang bei Reisen; Anmeldung des Vermögens; Ausschluß der Juden von der Straßenbahnbenützung; einschränkende Bestimmungen bei der Postsparkasse; Bau von Mauerabschnitten. Jede Bestimmung wird zu einer anderen Zeit erlassen, und jede betrifft eine besondere Gruppe. Und wenn jene dann ein Geschrei erhebt, rufen alle anderen Juden: ,Still! Wollt ihr uns alle in Gefahr bringen? Seid doch still, Freunde!’

Ich aber glaube, wir alle werden eines Morgens oufwachen und ein Krachen am Himmel vernehmen find werden sehen, wie sich alle Teile dieses Zu- sammensetzspieles rings um uns ineinander fügen. Ich wollte, ich könnte dahinterkommen, was die einzelnen Mauerabschnitte zu bedeuten haben…”

Mit der äußeren Einschließung in das Ghetto geht eine innere Entwicklung Hand in Hand. Davon belichtet Levinson im April 1941:

„Ich versuchte, Berson klarzumacheyt, daß sich unser Ghetto von einer normalen Gesellschaft nur dadurch unterscheidet, daß der normale Druck verhundertfacht ist und als Endergebnis dessen Folgen darum hundertfach verstärkt in Erscheinung treten — darunter die Begabung, sich am Leben zu erhalten, die Bereitwilligkeit, für sich und seine Angehörigen alles zu tun; nicht mind-r auch Selbstsucht und Korruption …”

Hier sei eine Anmerkung über die satanischen Methoden der deutschen Gewalthaber eingeschaltet. Sie bedienten sich sowohl zur Bekanntgabe wie zur Ausführung ihrer Bestimmungen des Judenrates, der, ursprünglich als jüdisches Selbstverwaltungsorgan eingesetzt, nach und nach zum Instrument der deutschen Ausrottungstaktik gemacht wurde. Da ist zum Beispiel diese schreckliche Anweisung zu Beginn der Deportationen im Juli 1942:

„Der Judenrat ist verantwortlich für die Herbeischaffung der J Jen, die täglich zur Umsiedlung bestimmt werden. Zur Durchführung dieses Auftrages muß sich der Judenrat des jüdischen Ordnungs?

dienstes bediene . Der Judenrat muß dafür sorge , daß vom 22. Juli 1942 a täglich 6000 Jude bis spätestens um vier Uhr nachmittags auf dem Umschlagplatz eingeliefert werden … Bis auf weiteres wird der Judenrat angewiesen, die tägliche Judenquote der Gesamtbevölkerung zu entnehmen. Späterhin wird er endgültige Anweisungen erhalten, die Straßenteile und Häuserblocks betreffend, die geräumt werden sollen.”

Hineingetrieben in eine Entwicklung, die sie bei Uebernahme ihres Amtes im Judenrat nicht voraussehen konnten, teils auch in der Hoffnung, durch die Ausführung so grausamer Bestimmungen ihr eigenes Leben zu retten, gaben Juden ihre Brüder preis und wurden Mithelfer an deren Ausrottung. So nehmen die Dinge ihren schrecklichen Lauf; die Auslesen werden immer rigoroser. Jeder im Ghetto weiß schließlich, daß die sogenannte „Umsiedlung” Tre- blinka und damit den Tod bedeutet. Und jeder versucht doch, dieses armselige, verschreckte Dahinvegetieren in Angst und Hunger, wenigstens noch um Tage zu verlängern. Das Ghetto wird ständig verkleinert, die Menschen, auf immer engerem Raum zusammengetrieben, können immer schwerer dem unabwendbaren Schicksal des sicheren Todes ausweichen. Aber der Wille zu überleben bleibt bestehen. In der immer auswegloser werdenden Lage kommt es schließlich auch zum Zusammenschluß der vielen gegnerischen Gruppen und endlich, 1943, zu jenem zwar aussichtslosen, aber tapferen Kampf der wenigen, damals noch Ueberlebenden gegen die Uebermacht der Henker, der im Untergang doch ein Sieg war. Im April 1943, nach den ersten beiden Tagen des Widerstands, macht Levinson diese erschütternde Eintragung: „Ich bin gerührt von der Einsamkeit dieser Kämpfergestalt im Ghetto. Er steht verlassen da. Was hat das Gewissen der Welt für ihn getan? Nichts. Was wird es je für ihn tun? Nichts…”

Und doch ist die letzte und wesentlichste Erkenntnis, die dieses erschütternde Buch dem Leser gibt, die Tatsache, daß die Opfer dieser größten’jüdischen Katastrophe letztlich die Sieger über ihre Mörder geworden sind.

„Es ist ein Unsinn, sich durch die Nazis ge- demütigt zu fühlen”, hatte der Rabbi Goldflamm vor seinem Tode gesagt. „Wir wissen alle, daß unser Glaube ihre Verfolgungen überdauern wird: wir sind die Besseren und Stärkeren als sie, und sie wissen das bereit — daher können wir auch unseren Tod als eine Demütigung für sie betrachten. Welcher Glaube ist je durch Folter, Knebelung, Waffen oder Verbrennung ausgetilgt worden7 Ich bin darum so ruhig, weil ich weiß, daß jedes System, das auf Liebe und Achtung aufgebaut ist, jedes System überleben wird, das auf Haß und Verachtung basiert.”

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