Tagebuch - © Foto: Pixabay

Erinnern ist verknüpfen

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Die preisgekrönte Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann über Zeitreisen, Formen des Vergessens und das Erinnerungs-Prinzip

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Die preisgekrönte Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann über Zeitreisen, Formen des Vergessens und das Erinnerungs-Prinzip

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Von Wittgenstein stammt der Satz: „Wo andere weitergehn, bleib ich stehn.“ Mit diesen Worten hat er eine alte Wahrheit wiederholt: Philosophie beginnt mit dem Staunen, und die Aufmerksamkeit, die ihn zum Anhalten bringt, ist nur ein anderes Wort für dieses Innehalten und Staunen. Durch Innehalten füllt sich die leere Zeit, die immer nur auf eines aus ist: zu verstreichen und dabei wie ein großer Strom unaufhaltsam alles an sich zu reißen und mit sich zu nehmen. Auch im Dauer-Strom der Wahrnehmung und des Bewusstseins gehen alle Sinneseindrücke und Denk- impulse unweigerlich unter.

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Das gilt auch für die Massenmedien, den Datenstrom der Tagespresse, wo täglich im monotonen Rhythmus des Auftauchens und Verschwindens eine sensationelle Nachricht die andere überschreibt. Was heute neu und wichtig war, ist morgen veraltet und vergessen. So löscht das Jetzt das Vorher aus und das Morgen entsorgt automatisch das Gestern. Um im Strom der Zeit überhaupt ein Bewusstsein ausbilden zu können, brauchen wir als Menschen deshalb die Unterbrechung, das Innehalten und das Erinnern.

Dabei wird das Zeitverhältnis des Strömens durch das Zeitverhältnis des Innehaltens ergänzt. Dieses Zeitverhältnis ist nicht einlinig, sondern zweistufig und arbeitet wie die Wahrnehmung überhaupt mit der Doppelbeziehung von Figur und Grund. Bei einem Bild ist Figur das, was wir im Vordergrund erkennen, während Grund all die Elemente umfasst, die anwesend sind, ohne gerade unsere Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Beim Nachdenken ist Figur das Thema, auf das wir fokussieren, und Grund der Fundus gesammelter Erfahrungen und gespeicherter Assoziationen und Daten, die wir dazu heranziehen können. Aufmerksamkeit stellt sich ein oder auch nicht.

 Aleida Assmann - © Foto: Privat

Aleida Assmann ist Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschafterin. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur englischen Literatur und zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Mit Jan Assmann erhielt sie 2018 den Friedenspreis des Dt. Buchhandels.

Aleida Assmann ist Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschafterin. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur englischen Literatur und zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Mit Jan Assmann erhielt sie 2018 den Friedenspreis des Dt. Buchhandels.

Vergangenheit und Zukunft sind durchmischt, deshalb ist es gut, wenn wir Archive nutzen, Zeitreisen machen.

Sie gibt es nur in der Gegenwart und ist keine Sache des Zustands und der gesicherten Dauer, sondern notorisch wankelmütig, unzuverlässig, volatil. In der Logik der Aufmerksamkeit gibt es nur das Jetzt!, Jetzt!, Jetzt!, wobei ein Impuls den anderen überschreibt und man am Ende mit leeren Händen dasteht.

Zurückgeben als Erinnerungs-Prinzip

Reine Aufmerksamkeit gibt es nur in der Gegenwart, aber die Erinnerung braucht Zeit. Sie kann etwas aus diesen Impulsen machen, indem sie das Aufmerken mit dem Sich-Merken verbindet, kurz: indem sie solche Momente und ihre Eingebungen festhält und wiederaufnimmt. Aber wie geht das und was sind die Voraussetzungen dafür? Dazu hat Augustinus ein einfaches und anschauliches Bild gefunden: das Ruminieren.

Das nämlich tut der Magen der Kuh, die nicht gleich alles verdaut und ausscheidet, sondern das Verschluckte wiederkäut und die Nahrung dabei dem Maul, den Kiefern und der Zunge noch einmal zurückgibt zum weiteren Zermahlen und Nachschmecken. Zurückgeben ist auch das Prinzip des Erinnerns, deshalb wird in den romanischen Sprachen alles, was mit Erinnern verbunden ist, mit der kleinen und unscheinbaren Vorsilbe „re-“ eingeleitet.

Sie spielt in allen Varianten von Erinnern eine Hauptrolle, denn immer wird etwas zurückgeholt oder es kommt aus eigener Kraft zurück, was ja nicht unbedingt dasselbe sein muss wie die Ausgangsinformation. Immer kommt mit so einer Wiederkehr, Wiederholung oder Wiederherstellung von etwas Erlebtem oder Gedachtem zugleich die Dimension der Zeit mit ins Spiel, die die Distanz der Intervalle zwischen Erinnern, Vergessen und Wiedererinnern ausdehnt und ausfüllt.

Denn das, woran wir uns erinnern, muss zeitweilig von der Bildfläche des Bewusstseins verschwinden. Erinnern vollzieht sich immer über zeitliche Intervalle des Nicht-Erinnerns oder auch Vergessens hinweg. Erinnern gewinnt sein Gewicht und seine Bedeutung erst aus der Überwindung eines zeitlichen Abstandes und einer Phase der Abwesenheit: Man holt etwas wieder in die Gegenwart zurück oder lässt sich auf etwas ein, was vorübergehend oder längere Zeit nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit, des Wissens oder des aktiven Bewusstseins war.

Friedrich Georg Jünger hat deshalb zwei Formen des Vergessens unterschieden: eine, die mit Verlust einhergeht, da gibt es nichts mehr zurückzuholen; und eine, die mit Erhaltung einhergeht und somit die Möglichkeit einer Rückholung einschließt. „Das Vergessen, das die Verwahrung des Gedachten und seine Rückkehr ins Denken ermöglicht“, nennt er deshalb das Verwahrensvergessen. Verwahren setzt einen Ort voraus, an dem etwas aufgehoben wird. Dieser Ort kann auch verborgen sein. Dann sprechen wir von „Latenz“. Das Wort kommt von latere, verbergen, und bezieht sich auf das, was vorübergehend dem Bewusstsein entzogen ist, was im Versteck überdauert. Wenn der Ort nicht verborgen ist, sondern umgekehrt ein geordneter Sammelplatz ist, sprechen wir von Archiv.

Zusammenhänge erkennen

Das Archiv eröffnet einen Zeit-Raum, der Zeitreisen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ermöglicht. Aber wie genau reisen wir eigentlich durch die Zeit? Die Antwort ist einfach: durch Verknüpfen. Verknüpfen ist zugleich die alltäglichste und produktive Tätigkeit des Geistes, die uns keine Maschine abnehmen kann. Die Maschine kann vernetzen und verlinken und Algorithmen für alles Mögliche anbieten, aber verknüpfen müssen wir selber. Denken ist verknüpfen, erinnern ist verknüpfen, Leben ist verknüpfen. Das Verknüpfen nimmt uns niemand ab, diese Verbindungen müssen wir herstellen, um etwas zu verstehen, um Zusammenhänge zu erkennen, um uns zu verständigen, um weiterzukommen.

Immer müssen wir im synchronen Einerlei des Datenspeichers neue Verbindungen herstellen, um überraschende Zusammenhänge zu entdecken und uns dabei selbst kennenzulernen. „Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.“ So hat es Nietzsche ausgedrückt. Es kommt also nicht nur das zurück, was wir suchen und wollen, sondern auch die Geister vermeintlich abgelebter Tage kehren zurück. Vergangenheit und Zukunft sind immer schon durchmischt, deshalb ist es gut, wenn wir Archive nutzen, Zeitreisen machen, für Entdeckungen offen sind und auf diese Weise unseren Möglichkeitsraum erweitern.

Mehr zum Thema Erinnerungskultur: Wie die FURCHE ihr Wissen für alle zugänglich macht

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