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Eine Gebärdendolmetscherin führt durch die stille aber bewegte Welt der Gehörlosen.

Deutschstunde: die Schulkinder erzählen von ihren Ferienerlebnissen. Eine Schülerin beschreibt die neue Waschmaschine, die Freude der Mutter über die Neuanschaffung. Vorsichtig und verhalten artikuliert das Mädchen seine Worte - plötzlich beginnt es sicher zu gestikulieren, Gebärden und Mimik ergänzen sich, die Geschichte und ihre Erzählerin werden lebendig.

Diese für die Situation von Gehörlosen charakteristische Szene spielte sich vor 25 Jahren ab - die damals hospitierende junge Lehrkraft Liselotte Neudecker hat sie bis heute nicht vergessen - im Gegenteil, sie hat sie als wegweisend in ihrer Arbeit als Gebärdendolmetscherin und Lehrerin für Gehörlose in Erinnerung behalten.

"Sie erzählte es uns in ihrer Sprache, weil es sie berührte, weil sie es authentisch berichten wollte und weil sie es nicht in einer für sie femden und ständig zu hinterfragenden (stimmt das so, ist der Fall richtig, habe ich das richtige Wort) Sprache vermitteln wollte."

Liselotte Neudecker, 1955 in Neukirchen/NÖ geboren, hat die ersten sechs Lebensjahre mit ihrer Mutter bei den gehörlosen Großeltern in Hilzmannsdorf verbracht und mit deren ausgeklügelten Kommunikationsformen in aller Selbstverständlichkeit umzugehen gelernt.

Mit großer Liebe beschreibt die Autorin den ruhigen, besonnenen Großvater, der im Haus ein kleines Zimmer, das sogenannte Rosegger-Stübchen, seinem Lieblingsdichter widmete und einen Taubstummenverein gründete, der "Verein taubstummer Roseggerfreunde" hieß.

Die kleine Lisi begleitete den geliebten Großvater auf der jährlichen Fahrt des Vereins. "Da wurde kommuniziert, da wurde gelacht, da war niemand behindert". Damals schon hat sie zwischen den Gehörlosen und den Wirten oder Busfahrern gedolmetscht: "Die Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache, in der man alles ausdrücken kann. Gewisse Feinheiten und Nuancen sind sogar mit ihr leichter auszudrücken, weil sie eine lebendige Sprache ist, sehr von Mimik und Gestik geprägt." Die Lebenslinie der Großeltern ist der Anker, auch der rote Faden dieser Wanderung durch die Welt der Gehörlosen.

Die Autorin beschreibt das Regelsystem und verweist gleichzeitig auf die Schwierigkeiten beim Dolmetschen. Sie erzählt Anekdoten, die durch die unterschiedlichen Sprachsysteme der Hörenden und der Gehörlosen entstehen, sie lässt eine bewegte Welt erstehen und betont strikt: "Gehörlose sind nicht stumm!"

Liselotte Neudeckers Bericht berührt auf zwei Ebenen: melancholisch-erzählend malt sie das Bild zweier Gehörloser, die 56 Jahre verheiratet waren und neun Kinder hatten. Kämpferisch skizziert sie die Gegenwart Gehörloser, u. a. die noch immer bestehenden Vorurteile gegen die Gebärdensprache. Szenen aus ihrem Alltag sowohl als Gebärdendolmetscherin als auch als Gehörlosenlehrerin dokumentieren das Ringen der Betroffenen um Teilhabe an der Kommunikation der Hörenden, das Sich-Ausdrücken-Können und -Wollen.

Die Autorin legt mit ihrem Buch ein klares Bekenntnis ab: für die Gebärdensprache und deren Anerkennung als Verständigungsmittel, als anspruchsvolles Sich-Ausdrücken, das keine Hilfssprache ist, sondern ein hochdifferenziertes Zeichensystem mit Gebärden für Zeitstruktur oder Aktiv- bzw. Passivform des Verbs.

"Solange auch nur zwei Gehörlose auf dieser Erde leben, werden sie, wenn sie einander begegnen, Gebärden benutzen." Das ist die Überzeugung, auf die sich die engagierte, feinfühlige Dolmetscherin zwischen zwei Welten stützt - mit ihrem Buch hat sie vordergründig einfach eine komplexe Geschichte sowie eine Geschichte hinter der Geschichte erzählt: Geschichten gegen die Isolation und das Isolieren, für das Sprechen mit den Händen, für das Hören mit den Augen.

Gehör-Los

Von Liselotte Neudecker

Verlag publication PN° 1 - Bibliothek der Provinz, Weitra 2002

100 Seiten, geb., e 15,-

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