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Neue Blicke auf den noch immer umstrittenen Dichter.

Er ist ekelhaft, aber interessant." So charakterisierte die jüngste Tochter Tilly Wedekinds den Freund ihrer Mutter, Gottfried Benn. Interessant ist Benn vor allem in seinen Widersprüchen: Ein gnadenloser Diagnostiker des Endes der bürgerlichen Welt, überkorrekt in Anzug und Krawatte. Ein Erotomane mit unglaublicher Scheu vor Gesellschaft und fremden Menschen. "... ein evangelischer Heide, ein Christ mit dem Götzenhaupt" (Else Lasker-Schüler). Anfangs begeistert von den Nationalsozialisten - gegen die er dann die Freiheit der Kunst verteidigt. Kein Wunder, dass Benns 50. Todestag gleich vier Biographen herausgefordert hat.

Zum einen hat die bewährte Reihe "Rowohlts Monographien" einen neuen Benn-Band vorgelegt: Er stammt von Walter Emmerich, der schon an Paul Celan bewiesen hat, wie klar er Biographie und Textinterpretation verbinden, aber jeden biographistischen Kurzschluss vermeiden kann. Und wie viel konzentrierte Information er in einem spannend zu lesenden Taschenbuch unterbringt. Wer eine aktuelle Orientierung über Benns Leben und Werk sucht, ist damit bestens bedient.

Gottfried Decker, der Benn als "Genie und Barbar" porträtiert, beleuchtet das komplizierte Privatleben Benns wie seine politischen Einstellungen. Ausführlich kommen Briefe von und an Benn zu Wort, es entsteht ein leicht lesbares plastisches Lebensbild. Aus dem Fototeil dieses Buches stammen die Benn-Bilder in diesem Dossier. Allerdings: Auf Seite 42 steht der ungeheuerliche Satz über Benn: "Heine imponiert ihm als ,Zeitablehnungsgenie'." Auf Seite 180 und 495 weiß Decker aber plötzlich, wie es wirklich war: "Zeitablehnungsgenie" war Heines negative Charakterisierung von Goethe. Über manche Wiederholungen verliert der Autor selbst den Überblick: Auf Seite 286 ist Lili Brenda eine der "von Benn benutzten Frauen", auf Seite 149 wird Benn gegen dieses Klischee verteidigt: "Ihre Verzweiflung ist groß, aber Benn ist nicht deren Ursache." Sehr oft verschwimmt die Grenze zwischen der Darstellung von Benns Gedankenwelt und ihrer Interpretation, und gelegentlich kann man hanebüchene Sätze wie diesen aufspießen: "Künstlerisch vermag er noch aus jedem menschlichen Verlust Gewinn zu schlagen. Das ist das amoralische Geschäft der Dichter." (Zu Benns Gedicht nach dem Suizid seiner zweiten Frau.)

Joachim Dyck hat seine Benn-Darstellung klar begrenzt: Auf den "Zeitzeugen" der Jahre 1929- 1949, Benns beiden "Erfolgsgipfeln". Mit detailliertem Blick auf Texte und Dokumente kann Dyck etliche Klischees über Benn widerlegen, etwa den, dass Benn den Irrtum seiner Hoffnungen auf die Nationalsozialisten erst durch den Röhm-Putsch eingesehen habe oder dass er "fallengelassen" wurde. Wie auch Decker zeigt Dyck, dass Benn durch die Angriffe des linken Lagers geradezu in die Arme der Nazis getrieben wurde. Genau werden die Hintergründe von Benns Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer beleuchtet und - vorurteilslos nach beiden Seiten - Benns ungerechte Haltung gegenüber den literarischen Emigranten dargestellt.

"Dieses Buch ist keine Biographie", warnt Helmuth Lethen im Vorwort. Er hat das stilistisch brillanteste Benn-Buch geschrieben, ist ein Spezialist für die geistigen Strömungen der Zwischenkriegszeit, und im Vergleich mit Dyck geht es ihm in erster Linie um Benns Texte. Mit viel Esprit interpretiert er wenige davon intensiv: Dabei erscheinen Benns frühe Gedichte gerade nicht als realistische Abbilder seiner Sezier-Erfahrungen und wird der Kontext des distanzierten, "kalten" Blickes oder Benns Rückgriff auf Sparta ausgeleuchtet. Benns Verhalten gegenüber den Nazis 1933 wird weniger als Individualfall, sondern im sozialpsychologischen Kontext gesehen. Dabei ist Lethens Buch kritischer gegen Benn als die drei anderen. Interessant ist, wie er das Verhalten Benns nach 1945 mit dem von Ernst Jünger und von Carl Schmitt vergleicht (warum nicht auch mit Heidegger?). Schade nur, dass er dabei mehr auf die Übereinstimmungen anstatt auf die Unterschiede schaut. Auch wenn Lethen dann doch viele biographische Einzelinformationen bringt: Man muss schon einiges wissen von Benn und seiner Zeit, um ihn zu verstehen.

Fazit: Keines der Benn-Bücher ist verzichtbar, aber wenn man sie alle liest, muss man sich durch etwa eineinhalbtausend Seiten und viele identische Zitate wühlen. Gerade der Vergleich ihrer Interpretation schärft aber auch das eigene Urteil. Und: Überall viel Biographie, zu wenig Auseinandersetzung mit dem Werk. Wer diese sucht, für den ist die Neufassung des Benn-Heftes von "Text+Kritik" unentbehrlich. Neben interessanten Einzelthemen und literarischen Bezügen bringt es vor allem genaue Analysen zentraler Gedichte. ch

GOTTFRIED BENN

Dargestellt von Wolfgang Emmerich.

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006, 160 S., brosch., mit zahlreichen Abbildungen, e 8,80

GOTTFRIED BENN

Genie und Barbar

Biographie von Gunnar Decker.

Aufbau Verlag, Berlin 2006, 544 S.,

21 Abbildungen, geb., e 27,20

DER ZEITZEUGE

Gottfried Benn 1929-1949

Von Joachim Dyck. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 464 S., geb., e 40,10

DER SOUND DER VÄTER

Gottfried Benn und seine Zeit

Von Helmut Lethen. Rowohlt Berlin

Verlag 2006, 318 S., geb., e 23,60

GOTTFRIED BENN

Text+Kritik Heft 44. Dritte Auflage: Neufassung. München 2006, 223 S., kart., e 23,70

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