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Die Bilderflut des Ekstatikers

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Unter den „entarteten“, nichtemigrierten „arischen“ Schriftstellern war Gottfried Benn während des Tausendjährigen Reiches der verhaßteste. Obwohl nie in irgendeiner Richtung politisch aktiv — sein „Engagement“ bestand darin, daß er nicht mitmachte, sondern nur Kunst produzierte —, galt er den damaligen Machthabern als Prototyp des dekadenten Literaten, mit dem sich die SS-Wochenzeitung „Das Schwarze Korps“ mehrmals in gehässigster Weise befaßte, natürlich immer wieder seine frühesten Gedichte, die bereits 1912 unter dem Titel „Morgue“ erschienen waren, zitierend. Und dies immer mit dem gewollten Effekt. Denn es sind Gedichte von einer beklemmend-direkten Anschaulichkeit, in denen die Agonie des Menschen mit der Präzision des Arztes, der Gottfried Benn war, beschrieben ist. Aber es gab des Anstößigen und „Unzeitgemäßen“ in seiner Dichtung noch genug anderes, gut Zitierbares ...

Gleich nach ihrem ersteh Erscheinen haben die Gedichte und die Prosa von Gottfried Benn ein berechtigtes, heute kaum mehr vorstellbares Aufsehen gemacht, und zwar auf der internationalen Literaturszene, besonders in Frankreich, ohne daß je eines der Bücher von Benn ein Bestseller wurde (seine Einkünfte, bis zum Ausbruch des Dritten Reiches, betrugen eine dreistellige Zahl in damaligen Reichsmark!). Der ihm völlig wesensferne Hermann Hesse nannte Benn in jenen frühen Jahren den „im Denken fortschrittlichsten und unerschrockensten Dichter unserer Zeit“, und Kurt Hiller schrieb: „Ich war durchaus sein Feind, doch ich zog den Hut vor ihm.“ Und Theodor W. Adorno bescheinigte ihrn: „Benn hat in einem höheren politischen Sinn immer noch mehr mit uns zu tun als sehr viele andere. Er war besser als seine Ideologie.“

Dies Wort sollte uns zu denken geben, denn so groß das Aufsehen war, welches Benns Veröffentlichungen nach dem Krieg, etwa ab 1949, verursachten, um so größer — und unverständlicher — ist das Verschweigen und Ignorieren Benns während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre. — Benn ist ein großer Einzelgänger und eignet sich nicht für Popularisierung. Aber die „Wissenden“ sollten ihn genau kennen. Die vorliegende kleine Auswahl, von Gerd Haffmans mit einem interpretierenden Nachwort versehen, kann nicht mehr sein als ein „Reizangebot“: zu der im Limes-Verlag erschienenen vierbändigen Gesamtausgabe oder zu der Ta-schenbucheditiori in acht preiswerten Bänden zu greifen. Dort findet man alles, auch Autobiographisches, zahlreiche Essays und Studien, die Benn eigentlich nur zur Rechtfertigung seiner dichterischen Existenz geschrieben hat.

Der Sohn eines evangelischen Pfarrers und einer reinblütigen Französin aus Fleurier im Jura studierte zunächst Theologie, dann Medizin. Dies allein ergab eine hochbrisante Mischung. Sein Leben verbrachte er als Arzt — Spezialgebiet Pathologie und Dermatologie — in einem Berliner Arbeiterviertel, das er kaum je verließ. Wie im ersten Weltkrieg flüchtete er auch im zweiten in die Wehrmacht, als Oberstabsarzt. Aber er baute auch hier jenen Raum von Einsamkeit um sich, wie in seiner kleinen, sehr bescheidenen Berliner Wohnung und in einer Art Kaschemme, Stammbeisel würde man bei uns sagen, wo er schreibend stundenlang saß, einsam und doch nicht allein. („Nichts Träumerischeres, als eine Kaserne“, notierte er einmal in seiner Autobiographie „Doppelleben“.)

Seine Gedichte und seine Prosa sind von ganz besonderer, unverwechselbarer Art: eine Verbindung von gedanklichen, lyrischen und mythologischen Elementen, dies alles erfahren als „Bilderflut“ und vorgetragen mit der Stimme eines Ekstatikers, aber nicht mit der eines klagenden oder psalmodierenden, sondern von Urgesichten berauscht, eine Poesie der Bodenlosigkeit, melancholisch, zutiefst pessimistisch, mit effektvoll-überraschenden Einsprengseln moderner Saloppheit.

Nur einmal, zu Beginn der dreißiger Jahre, hat er sein heroisch-fatalistisches Bild von der „Dorischen Welt“ mit dem heraufkommenden Dritten Reich verwechselt. Er schrieb auch einen offenen Brief an die deutschen Emigranten: „Der neue Staat und die Intellektuellen“ und, 1934, „Kunst und Macht“, die ihm von seinen Kollegen und Bewunderern sehr übelgenommen wurden. Am schärfsten akzentuierte dies Klaus Mann in seinem Lebensrückblick unter dem Titel „Wendepunkt“, erklärte aber zugleich Benn als einen der größten Lyriker und nennt als schönstes Gedicht in deutscher Sprache seit 1920 ein Gedicht aus dem Jahre 1922 („Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde im Gelände I die roten und die goldenen Brände, I doch wo ist deiner Gärten Lust?“).

Zum Persönlichen: Er war, wie gesagt, ein Einzelgänger, ungesellig, weil leicht ermüdbar und daher äußere Eindrücke abwehrend. Ihm, dem mittelmeersüchtigen, wurde erstmals mit 54 Jahren das Glück zuteil, mit einem seiner Patienten in den Süden zu kommen (früher war „Riccione“ für ihn ein Zauberwort ...). 1937 erhielt er Schreibverbot, d. h. er durfte nichts veröffentlichen. Aber 1945 hatte er viel und vielerlei „in der Lade“, und etwa seit 1948 („Statische Gedichte“) erschien fast alljährlich ein Band von Benn, u. a. „Ausdruckswelt“, „Destillationen“ und zuletzt, 1955, ein Jahr vor seinem Tod „Apresludes“, Symbol des Abschieds für immer.

AUSGEWÄHLTE GEDICHTE von Gottfried Benn. Herausgegeben von Gerd Hoffman. Diogenes-Verlag, Zürich. 112 Seiten.

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