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Sprechzimmer, leicht verfremdet

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Hundert Jahre nach der Geburt des großen deutschen Lyrikers am 2. Mai 1886 pilgern seine Verehrer in das württembergische Dorf Wolfschlugen, in dem Ilse Benn jetzt lebt.

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Hundert Jahre nach der Geburt des großen deutschen Lyrikers am 2. Mai 1886 pilgern seine Verehrer in das württembergische Dorf Wolfschlugen, in dem Ilse Benn jetzt lebt.

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Am 13. Dezember 1946 berichtet Dr. med. Gottfried Benn, Bozener Straße 20, Berlin-Schöneberg, seinem „Gentleman-Freund“ und „erlauchten Protektor“, dem Bremer Großkaufmann Friedrich Wilhelm Oelze, mit dem er seit 1932 in stetem Briefwechsel steht, von einer aufwühlenden ,Begeg-nung, die seinem Leben eine entscheidende Wendung gegeben hat. Der zweifache Witwer, eben sechzig geworden, hat noch einmal geheiratet: „Ein Wesen von großem Reiz nach der menschlichen Seite hin.“ Dr. Ilse Kaul, siebenundzwanzig Jahre jünger als er, „hat eine große eigene zahnärztliche Praxis hier ganz in meiner Nähe ... Jeder macht am Tage seine Praxis, und abends reden wir zusammen ... Es ist diese neue Verbindung eine für mich sehr schöne, aber natürlich von vornherein auch eine sehr ernste und melancholische ... Am erstaunlichsten, daß ich sie völlig als ebenbürtig empfinde ... Es ist von beiden Seiten eine ausgesprochene Liebesheirat.“

Was mag daraus werden?

„Sie wird einiges lernen, einige innere und äußere Erfahrungen bei mir und durch mich sammeln, und dann wird sie weitergehn und meinen Namen noch eine Zeitlang tragen und die Erinnerung an mich bewahren, solange sie es kann und mag.“

Zehn Jahre später stirbt der Dichter: Sommer 1956. Ilse Benn hält es ohne ihn nicht aus in Berlin, übersiedelt nach Württemberg — etwas möglichst Entlegenes soll es sein. Wolfschlugen heißt das Dorf ihrer Wahl; hier hofft sie unerkannt zu bleiben, in Ruhe ihre Zahnpraxis betreiben und in der verbleibenden Freizeit das ihr übertragene Dichtererbe verwalten zu können.

Doch der Benn-Kult hat mittlerweile solche Dimensionen angenommen, daß man die Witwe natürlich auch hier ausfindig macht. Der Kultusminister schickt der Neubürgerin ijiit dem klangvollen Namen Willkommensgrüße, Thaddäus Troll bietet seine Dienste an, der japanische Benn-Ubersetzer Hiroji Ho-shino, dem Toten zu Ehren trotz Hundstagshitze in feierliches Trauerschwarz gekleidet, macht der Witwe seine Aufwartung—ein Bukett im Arm, in dem keine von Gottfried Benns Lieblingsblumen fehlt: Schleierkraut und Flieder, Rose und Levkoje, Aster, Anemone und Reseda.

Auf die Germanisten folgen die Mediziner: Auch sie drängt es, dem Dichter-Arzt, mit dem sie den einen seiner beiden Berufe teilen, zu huldigen. Als ich mich mit Ilse Benn treffe, kehrt sie gerade von einer Ärztetagung heim, die mit einer vorzüglichen Benn-Gedächtnisausstellung gekoppelt gewesen ist: Rezeptformulare neben Gedichthandschriften, das Berliner Ordinationsschild neben der Büchnerpreis-Urkunde.

Hier, im Grenzgebiet von Kunst und Wissenschaft, fühlt sich auch Ilse Benn am wohlsten: Keinem der gestrengen literarischen Magazine vertraut sie ihre Studie „Mein Mann Gottfried Benn“ an, sondern der Hauszeitschrift eines Arzneimittelkonzerns (die daraufhin prompt von Interessenten gestürmt wird und nachdrucken muß).

Fällt es ihr nicht noch heute, da sie längst ihre Zahnpraxis aufgegeben und sich für den Ruhestand entschieden hat, schwer, sich vom vertrauten Inventar des Sprechzimmers zu trennen, schon weil sich diesem Inventar im Lauf der Jahre auch so manches -Erinnerungsstück aus der Praxis ihres Mannes beigesellt hat: Bestrahlungslampe, Sessel, Instrumentenschrank? Dazu die literarischen Einsprengsel: in einem der Schränke Benn-Briefe, auf dem Behandlungsstuhl die von den Agenturen gelieferten Rezensionen aus der letzten Zeit, irgendwo ein Päckchen Benn-Bände, das, für einen DDR-Adressaten bestimmt, von den Behörden zurückgewiesen worden ist, eine Zahnsonde als Briefbeschwerer einer unerledigten Verlagskorrespondenz. Sprechzimmer, verfremdet.

Umso mehr Benn pur in der Dachmansarde. In der alten Kredenz aus Berliner Tagen, säuberlich katalogisiert, der Großteil der Briefe, daneben das einfache Stahlrohrbett, dem der Dichter bis zuletzt den Vorzug gegeben hat. Wir kommen auf dies und das zu sprechen: auf das wiederholt lautgewordene Rauschgift-Ge-raune (Ilse Benn: „Kein Wort wahr. Schlafmittel und Pyrami-don — sonst nichts!“); auf den Benn-Biographen Walter Lennig, der die Unnahbarkeit seines Studienobjekts überwand, indem er sich - als Patient - in Ilse Benns Zahnpraxis einschlich und ihrer Komplizenschaft versicherte; auf die Auswüchse des Benn-Kults (sechsundzwanzigjähriger Medizinstudent nimmt sich zwei Tage nach dem Tod des Dichters das Leben); und schließlich auf jene Nachbarortschaft Benningen, die der Witwe einen Moment lang als verlockender Alterssitz erscheint, bis sie sich zu guter Letzt, Benns heftige Abneigung gegen alles Anekdotische, bedenkend, doch für das indifferentere Wolf schlugen entscheidet.

Indifferent? Die Schwaben haben ein erklärtes Nahverhältnis zur Literatur: keine Ortschaft ohne Hölderlin-, ohne Mörike-Stra-ße. Ilse Benns Haus steht in der Hauff-Straße. Bei weiterhin guter Führung wird sie also damit rechnen müssen, daß es hier demnächst auch eine Benn-Straße geben wird.

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