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Apokalypse und Götterdämmerung

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GOTTFRIED BENN, GESAMMELTE WERKE In acht Bänden. Herausgegeben von Dieter Well e rsh of. Verlag Limes. DM 48.—.

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GOTTFRIED BENN, GESAMMELTE WERKE In acht Bänden. Herausgegeben von Dieter Well e rsh of. Verlag Limes. DM 48.—.

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Unter den großen Dichtem des 20. Jahrhunderts ragt Benn einsam wie ein Monolith aus der Konkursmasse abendländischer mythenumspiegelter Welt in den glasklaren Himmel eines aufgeklärten Intellektualismus. Einsam deshalb, weil er wohl der einzige Lyriker war, in dessen Werk wie nur sonst in der Romanliteratur dieser Zeit sich das Lebensgefühl einer ganzen Epoche spiegelt. Ähnlich wie Kafka oder Musil interpretiert er den Menschen revolutionär, als am Beginn einer neuen Geschichte eines neuen Selbstverständnisses.

Benn gilt auch heute noch als umstrittener Autor, nicht nur weil es wenigen gelingt, wirklich Zugang zu dieser streng asketischen und zugleich magisch orphischen Lyrik zu finden, sondern weil ihm noch immer das Stigma seiner nazistischen Vergangenheit anhaftet. Sein Nichtaustritt aus der Akademie 1933 veranlaßte Klaus Mann, dem Dichter seine tiefe Enttäuschung über dessen augenscheinliches Versagen brieflich mitzuteilen. Die Antwort Benns, aber vor allem seine späteren autobiographischen Notizen zeigen jedoch, wie differenziert historische Fehlentscheidungen zu beurteilen sind.

Benn war weder Nazipoet noch Rassist noch Propagandist, ja es zeigte sich sehr bald, daß er den Machthabern unbequem war und als Vertreter „entarteter Kunst“ sogar verfolgt wurde. Benn distanzierte sich bereits 1934 nach der „Röhm- Revolte“, hatte aber den Anschluß verloren, so daß er auch an eine Emigration nicht mehr denken konnte. Eine Rehabilitierung wurde ihm erst 1951 mit der Verleihung des Büchner-Preises zuteil.

Die politische Haltung Benns im Jahre 1933 mag verschiedene Wurzeln haben. Eine war der Versuch, Geschichte denkerisch zu bewältigen ohne Kenntnis der politischen Realität (Benn hatte weder Kontakte zu NS-Führern noch widmete er sich der Lektüre der Parteiprogramme), die andere mag in jener Versuchung gelegen haben, der auch andere Zeitgenossen anheim fielen, in der Versuchung nämlich, metaphysische Unruhe gleichsam in die Ideologie abzuleiten.

Der Faszination des Todes in seinem dichterischen Werk entspricht ein geschichtsphilosophischer Defaitismus (auch Geburt ist Gewalt, auch Eiszeit ist Gewalt… .Das Dilemma Geschichte!), der Tragik und Vernichtung als dem Menschen adäquat begreift, ja von daher dessen Erneuerung erwartet. Der Irrtum endete für Benn schließlich mit dem Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer und Schreibverbot.

Seine schriftstellerische Tätigkeit trug ihm nicht mehr als 4,50 Mark im Monat, wie er einmal errechnete. Er lebte in Beriin als praktischer Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, eine gewisse Breitenwirkung hatte er nur mit seinem von der Biologie, der Medizin her inspirierten Gedichtzyklus „Morgue " erreicht. Doch entwickelte sich seine Lyrik vom Spektakulären eines Kreißsaal- und Seziertischnaturalismus später immer mehr hin zu einer sich dem Wort verpflichtenden Kunst, einer Kunst höchster Artistik, „rein wie ein Adagio mit Klarinette und Klavier“.

Dieses stark elitäre Bewußtsein trennt Benn wie durch einen Abgrund von den Kunstschaffenden der Gegenwart, doch wurde seine die Dimensionen des Wortes ausschöpfende Lyrik ohne Zweifel zur Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Dichtkunst im deutschen Sprachraum.

Weiterhin kann man heute Benn wohl als ein großes Beispiel für die ungeheure metaphysische Gewalt eines bis zur letzten Konsequenz durchgehaltenen Nihilismus bezeichnen. Diese Grundhaltung steigert sich in manchen seiner Gedichte zur sakralen Feier, zum traumhaft erlebten Totentanz, einem kosmischen Untergangstaumel von visionärer Schönheit. Eine Wortcollage aus Apokalypse und Götterdämmerung im Gewand des gesteigerten Intellektualismus eines von der Naturwissenschaft geprägten Geistes.

Die Gesamtausgabe der Werke Benns wurde nach streng wissenschaftlichen Gesichtspunkten besorgt. Mit Hilfe eines Variantenverzeichnisses kann der Leser die Textgeschichte bis zur Erstveröffentlichung verfolgen.

Die Ausgabe verfügt außerdem über ein Begriffsregister, das besonders für den Germanisten von Interesse sein wird.

Es wäre nun an der Zeit, Benn wieder zur Diskussion zu stellen, zumal Vorurteile und Ressentiments einer sachlichen Beurteilung des Dichters Benn, der zu den größten seiner Zeit gehört, abgebaut werden können.

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