Persönlich, poetisch, politisch

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Vor 50 Jahren starben die prägenden Antipoden der deutschen Nachkriegsliteratur: Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Julian Schutting wirft einen spezifischen Blick auf Benn, Raimund Fellinger beschreibt, wie Brecht österreichischer Staatsbürger wurde und einen Gegen-Jedermann für die Festspiele schreiben wollte. Weiters wird Brecht als überraschend eigenwilliger Psalmendichter vorgestellt und ein kritischer Blick auf die neue Literatur über Gottfried Benn geworfen. Redaktion: Cornelius Hell und Brigitte Schwens-Harrant

Im ersten Nachkriegsjahrzehnt waren Gottfried Benn und Bertolt Brecht Fixsterne der Literatur und Repräsentanten eines Systems. Was ist von ihnen geblieben?

Im Sommer 1956, in meinem Geburtsjahr, sind sie beide verstorben: Gottfried Benn am 7. Juli und Bertolt Brecht am 14. August. Als ich zur Schule ging, standen sie schon im Lesebuch, aber in meinem katholisch-abgeschotteten Gymnasium waren sie noch lange nicht selbstverständliche Schullektüre. Wie Kometen eingeschlagen in meine jugendliche Naivität haben sie beide: Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters" haben den Unsinn des Schulunterrichts aufgedeckt: Geschichte und Literatur als Gänsemarsch bedeutender Köpfe. Und wenn ich Benns "Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke" lese, sehe ich noch genau den Schulvormittag vor mir, an dem mir der Schock dieses Gedichtes für lange die Rede verschlagen hat: "Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße / und diese Reihe ist zerfallene Brust. / Bett stinkt bei Bett, Die Schwestern wechseln stündlich." - Gegen diesen kalten Blick auf das Sterben hilft keine Beschwichtigung.

Benn und Brecht: Radikalere literarische Antipoden gab es nicht im Deutschland des ersten Nachkriegsjahrzehnts. Persönlich: Benn, der Pykniker mit dem somnambulen Blick, oft depressiv, immer überkorrekt gekleidet und dringend angewiesen auf die Ruhe im Halbdunkel seines Arbeitszimmers, gegen den drahtigen, hellwachen Brecht, äußerlich lässig und angewiesen auf Menschen. Nur Zigaretten rauchende Erotomanen waren sie beide.

Radikale Antipoden

Poetisch: Benns proklamierte Monologe ("im Gedichte / das Selbstgespräch des Leides und der Nacht") und sein "Verlorenes Ich" gegen Brechts didaktische Dialoge, die (nicht immer nur!) für ein klassenbewusstes Wir argumentieren; Benns "Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe des Weisen" gegen Brechts strikte Ablehnung einer Weisheit, die sich "aus dem Streit der Zeit halten" will. Gegen Benns Gedicht "Satzbau" von 1950 ("aber heute ist der Satzbau / das Primäre") und die Beschwörung der Form in seinen "Statischen Gedichten" hat Brecht im Februar 1956 nach der Premiere der "Dreigroschenoper" am Mailänder "Piccolo Teatro" das obenstehende Gedicht geschrieben. Und politisch: Brecht, der ehemalige Emigrant in Ostberlin, der bedeutendste Vorzeige-Dichter der ddr - Benn, der das Nazi-Regime zunächst begrüßt und dann darunter gelitten hatte, in Westberlin, in den 1950ern der repräsentative Dichter der Adenauer-Ära und die ideale Identifikationsfigur für die wenigen, die vor 1945 in der "inneren Emigration" waren - und die vielen, die das später für sich reklamierten. Heute sieht man klar: Politisch instrumentalisiert wurden sie beide, und nicht immer war das nur ein Missverständnis.

Brecht und Benn: daran schieden sich die Geister, und nahezu die gesamte Lyrik in Deutschland kreiste um einen der beiden als Fixstern (in Österreich waren eher Rilke und Trakl die prägenden Modelle).

Was bedeuten sie heute?

Als ich in den 1970er Jahren Germanistik studierte, galt Benn als verkappter Nazi - man musste ihn gar nicht erst lesen -, Brecht hingegen als der entscheidende Dramatiker und Theoretiker (seine Gedichte standen immer im Schatten). Wäre man damals für Benn eingetreten anstatt für Brecht, man wäre intellektuell nicht mehr satisfaktionsfähig gewesen. Das Glück, dass ich mir Brechts "Gesammelte Werke" leisten konnte, habe ich allen Freunden erzählt, einen Benn-Band erst verschämt nach dem Studium erstanden (lesen sollte man ihn ja doch...).

Fünfzig Jahre nach beider Tod scheint Benn das Feld zu beherrschen. Während von Brecht nur Neu-und Sonderausgaben einzelner Werke aufgelegt werden, löst Benn eine Publikationswelle aus (siehe die folgenden Seiten). Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass 1998 der 100. Geburtstag Brechts gefeiert wurde, während Benn schon lange kein Pflichtdatum mehr hatte. Aber dass 2006 kaum ein großes Theater mit einer Brecht-Aufführung von sich reden macht? Immerhin hat Brecht die Spiel-und Sehgewohnheiten verändert wie wohl kein anderer Autor. Aber was seine Stücke jenseits ideologischer Propaganda noch taugen? Die Frage wäre ernsthafte Versuche wert.

Die Zeit, wo man wählen musste zwischen Brecht und Benn, ist heute zum Glück vorbei. Mir selbst ist die Person Gottfried Benn über der Lektüre seiner Biographien unvermutet nahe gekommen. Aber keines seiner Werke bedeutet mir so viel wie die späte Prosa Brechts und vor allem seine Gedichte. Das knappe Gedicht "Der Rauch" - Haus, Bäume und See wären trostlos ohne den Rauch als Spur menschlicher Anwesenheit - wiegt für mich schwerer als Benns gereimtes Einsamkeitspathos; nicht nur inhaltlich, auch durch seine Form.

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