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Große Männer im Spiegel ihrer Zeit

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En Jahrhundert deutscher Literaturkritik. Band II: Schiller und sein Kreis; Band III: Der Aufstieg zur Klassik; Band IV: Das große Jahrzehnt. Von Oscar Fambach. Akademie-Verlag, Berlin, XXXI 562, XXII 685, XIX 684 Seiten. Preise 32, 56, 42 DM

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En Jahrhundert deutscher Literaturkritik. Band II: Schiller und sein Kreis; Band III: Der Aufstieg zur Klassik; Band IV: Das große Jahrzehnt. Von Oscar Fambach. Akademie-Verlag, Berlin, XXXI 562, XXII 685, XIX 684 Seiten. Preise 32, 56, 42 DM

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In seiner zweiten Sammlung von Fragmenten „Ueber die neuere deutsche Literatur“ hat Herder gleich eingangs geschrieben: „Der erste Kunstrichter war nichts mehr als ein Leser von Empfindung und Geschmack.“ Einen Absatz später heißt es: „Dem Schriftsteller, was soll der Kunstrichter sein? Sein Diener, sein Freund, sein unparteiischer Richter. Suche ihn kennenzulernen und als deinen Herrn auszustudieren, nicht aber dein eigener Herr sein wollen.“ Als Herder diese — wie es scheint einfachen, aber doch so wenig durch benamste und anonym gebliebene Literaturkritik befolgten — Worte niederschrieb, war Schiller ein Kind von sieben, acht Jahren: als die erste Kritik von Gewicht (in dem Bande, der ihm und seinem Kreis gilt) in einer periodischen Schrift erschien, war er zweiunddreißig Jahre alt. Weder in den Zeiten vorher noch nachher hat sich jenes große Gefühl der Allgemeinverantwortung ungebrochen so durchsetzen können, wie es Herder, der große Anreger auf den Zinnen der ewigen Stadt der Ideen, gesehen hat. Es ist eipe der dankenswerten und tröstlichen Bestrebungen des großen, auf sechs Bände veranschlagten Werkes über die deutsche Literaturkritik zwischen 1750 und 1850 (Band I soll Lessing, Band V dem „Rückfall“, 1806—1815, Band VI der „Zeit ohne Ausweg“, 1816—18 50 gelten), daß es die Stimme des „Lesers von Empfindung undiKJeschra cf gKcjMlitWIldes „pjfpew“, und' des „Freundes", um auf Herder zurückzukommen, in dem vieltönigen, oft einem losgelassenen Sturm gleichenden Meinungswechsel immer bemerkbar macht. Daran hat die sondernde Hand des Herausgebers viel Anteil, und welche unerhörte Mühe er bestritt, erhellt schon aus dem einen Beispiel der Ermittlung des Verfassers einer Kritik der „Horen" in den „Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes“, Halle 1795. Für die 16 Druckseiten umfassende Kritik und die Feststellung Wilhelm Friedrich August Mackensens (1768—1798) als Verfasser, beziehungsweise die Anmerkungen zu dieser Rezension mitsamt angeführten Briefstellen und Xenien, wurden viele tausende Bände durchgesehen, um ein Urteil zu fällen. Auf der Suche hat es sich gezeigt, daß manche Zeitungen oft nur in einem einzigen Stück in Deutschland vorhanden sind (so die „Erfurtische Gelehrte Zeitung“, 35. Stück, vom 24. Juli 1781 mit der Rezension der ersten Fassung der „Räuber“).

Schiller wird uns in dem zweiten Band der als „Lesebuch und Studienwerk“ ausdrücklich deklarierten Publikation nicht als ein Vereinzelter, sondern — eben durch die Herausgabe der „Horen“ und des Musenalmanachs — als eine physisch-psychische Macht mit Anziehungs- und Abstoßungskraft dargestellt, und ein literarisches Planetarium rollt vor dem Leser ab. Zeitlich ist die Grenze mit Schillers Tod gegeben (um nicht ins Uferlose zu geraten, was Fambach bereits in seinem Buch „Goethe und seine Kritiker“, Düsseldorf 1953) erkannt hat. Die Aeuße- rungen sind aus der periodischen Presse geschöpft; durch die Briefe und Gegenmeinungen der Beteiligten und Fernstehenderen entsteht eine faszinierende kulturhistorische Komposition.

„Der Aufstieg zur Klassik“ schließt an diesen Band an. Thematisch werden in achtzehn Einzeldarstellungen die wichtigsten Streitfälle aus den Jahren 1750 bis 1795 aufgerollt. Den Anfang macht Klopstocks Epos „Der Messias" (die Kritik Nikolais zum zweiten Band), am Schluß begegnen wir Herder, dessen reine Ansichten wir eingangs zitierten, im Wirbel um einen Aufsatz in den „Horen" (Homer, ein Günstling der Zeit), woraus der philologische Streit mit F. A. Wolf entbrannte. Dazwischen werden wir Zeugen der mit viel Temperament, Laune, Satire, Ausdruckskunst (und Wissen!) ausgetragenen Fehden von Cramer, Basedow und Klopstock gegen Lessing und — ganz besonders köstlich zu lesen — der Meinungsverschiedenheiten zwischen Voß und Lichtenberg, Kant und Feder, Herder und Kant und so( fort Kant als Rezensent der Herderich'en „Ideen":

Der vierte Band der historisch-kritischen Revue bringt unter dem Titel „Das große Jahrzehnt“ die wesentlichen (und umstrittensten) Rezensionen aus der periodischen Literatur zwischen 1796 und 1805. Ein „großes Jahrzehnt" schon deswegen, weil sich im Wirken Goethes und Schillers ein großes Sternbild glänzend auf dem sich umziehenden Himmel zeigte: von Größe aber auch durch die Tätigkeit der Brüder Schlegel und Chr. G. Schütz (des Leiters der „Allgemeinen Literaturzeitung“ in Halle). Aus allen diesen Stimmen — und noch mehr aus der Lektüre der bezüglichen Zeitschriften und der an Umfang ansehnliche Broschüren oder Bücher erreichenden Kritik jener Zeit (A. W. Schlegel über die Ilias-Ueber- setzung von Voß: 34 Druckseiten) — sieht man, wie arm an kritischen Werten und wie schwächlich unsere Presse geworden ist. Nicht, weil wir zuwenig Mitfühlende, Mitwirkende, Freunde, Diener, Unparteiische besitzen, sondern weil unsere periodischen Schriften völlig jeden Zielpunkt und die Kraft verloren haben, produktive kritische Naturen anzuziehen: deswegen haben wir keine Literatur von Weltgeltung, keine Theater von magnetischer Bedeutung, deshalb leben wir in einem subventionierten Kulturnirwana.

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