Den Polen ein Deutscher

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Marta Kijowska porträtiert den streitbaren Schriftsteller Andrzej Szczypiorski mit Sympathie und kritischer Distanz.

Mein europäisches Bewußtsein existiert nicht mehr, dachte er bedauernd, vielleicht hat es sogar nie existiert, vielleicht war es nur eine Illusion, das Streben nach einer Identifikation, die mir nie gegeben war?" Gedanken Pawels in "Die schöne Frau Seidenman", dem Roman, der Andrzej Szczypiorski in den späten 80er Jahren berühmt machte. Der Erfolg begann in Deutschland, Szczypiorski wurde in der Folge zu einem der meistgefragten Kommentatoren der deutsch-polnischen Geschichte, zu einem versöhnenden Vermittler zwischen den beiden Ländern.

Manchmal wird ein Name so groß, ein Mensch zu einem Begriff, man glaubt zu wissen, man kennt die Lade, hört auf nachzufragen. Szczypiorski starb 2000, konnte die Schwelle ins neue Jahrhundert nicht überschreiten. Sein Leben und Schreiben waren geprägt von den Totalitarismen des vorhergehenden, Nationalsozialismus und Kommunismus. In Polen, in Deutschland, in Europa scheinen die Uhren nun von Tag zu Tag schneller zu gehen, kaum bleibt Zeit, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, die Ungewissheit der Zukunft macht auf neue Weise Angst. Wie viel Zeit bleibt da noch für Vergangenheit?

Marta Kijowska tritt einen Schritt zurück. Sie erzählt in ihrer Biografie über Andrzej Szczypiorski vom 17-Jährigen, der am Warschauer Aufstand teilnimmt, gefangen genommen und im KZ Sachsenhausen interniert wird. Sie beschreibt die Jahre des "heroischen Opportunismus", denn zu ambivalent ist Szczypiorskis Leben, zu den frühen Helden der Opposition gehört er nicht. Erst 1968, als Tausende Juden aus Polen vertrieben werden, bezieht er endgültig Stellung gegen das Regime. Für Szczypiorski, selbst katholisch und sich immer wieder neu mit dem Glauben auseinandersetzend, ist der Mord an den Warschauer Juden das traumatische Ereignis seines Lebens. Sein Credo aber, wonach es die Schuldigkeit jedes Autors sei, "zusammen mit Adolf Eichmann in der Todeszelle zu bleiben", über Täter nicht zu urteilen, sondern zu versuchen zu verstehen, provoziert viele Polen. Umso mehr, als Szczypiorski auch die Opferrolle Polens immer wieder hinterfragt. Zu den bittersten Erfahrungen seines Lebens zählt die Verhaftung im Dezember 1981 durch die eigenen Landsleute. Nach der Ausrufung des Kriegszustandes wird er mit vielen anderen Intellektuellen monatelang in einem Internierungslager festgehalten. Dass er sich selbst nie zum Märtyrer stilisiert und Jahre später sogar Verständnis für Jaruzelskis Schritt aufbringt, polarisiert die polnische Öffentlichkeit genauso wie sein unerwarteter Erfolg in Deutschland. Streitbar und unbequem für sein Land bleibt er bis zu seinemTod.

In Marta Kijowska hat Andrzej Szczypiorski eine kongeniale Biografin gefunden. Bei aller spürbaren Sympathie verliert sie nie die kritische Distanz. Sie konzentriert sich auf die literarische, politische und historische Verortung Szczypiorskis, wodurch das Buch auch zu einer wertvollen Einführung in polnische Zeit- und Kulturgeschichte wird. Sollte ein europäisches Bewusstsein doch existieren, dann konstituiert durch eine Biografie wie diese oder die Romane Szczypiorskis selbst.

Der letzte Gerechte

Andrzej Szczypiorski

Eine Biografie von Marta Kijowska Aufbau Verlag, Berlin 2003

397 Seiten, geb., e 20,60

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