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Ein Ort für die Tränen, die keiner sehen will

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Allerheiligen und Allerseelen sind vorüber, die Trauer über den Verlust eines Menschen bleibt. Gottesdienste für Trauernde bieten Hilfe.

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Allerheiligen und Allerseelen sind vorüber, die Trauer über den Verlust eines Menschen bleibt. Gottesdienste für Trauernde bieten Hilfe.

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Anna K. wußte nicht, was mit ihr los war. Vor drei Wochen war sie aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt gezogen, besaß eine schöne Wohnung, verstand sich auf Anhieb mit den neuen Kollegen - und dennoch war sie niedergeschlagen und traurig. Sie trauerte um die vertrauten Straßen in ihrer alten Stadt und die heimelige Altbauwohnung, vermißte den Räckerladen an der Straßenecke und den kleinen Pudel ihrer Nachbarin. Weil sie sich schämte, teilte sie ihre Gefühle aber niemandem mit.

Anna K. ist kein Einzelfall. „Oft wissen die Menschen nicht, daß das, was mit ihnen passiert, ganz normale Trauer ist”, erzählt Monika Salzer, evangelische Krankenhausseelsorge-rin und systemische Familientherapeutin in Wien. Nicht nur, wer einen Menschen verliert, auch wer krank oder arbeitslos wird oder auch nur umzieht, hat Grund zu trauern. „Jeder Mensch, der einen Verlust erlitten hat, ist ein Trauernder.”

Trauer ist also ein umfassender Zustand, der viel häufiger vorkommt als angenommen. „Die Wut der Arbeitslosen ist auch die Wut der Trauer”, weiß Salzer.

Die Gefühle von Niedergeschlagenheit, Ohnmacht, Traurigkeit, Wut, Scham oder Schuld, die als Folge eines Verlustes auftreten, werden aber nicht ernstgenommen, wie die Therapeutin beklagt. In einer hochtechnisierten Zivilisation, die nur vom „Kopf” bestimmt ist und wo Funktionalität oberstes Prinzip ist, gibt es keinen Platz dafür. Meist fehlen sowohl ein familiärer Rückhalt, wo das Leiden deponiert werden kann, sowie auch helfende Rituale

Typisches Symptom unserer heutigen Zeit ist, so berichtet Monika Salzer, „daß Abschiede nicht mehr richtig gefeiert werden”. Ursache dafür kann Scham sein. „Aus Scham darüber, im Mittelpunkt zu stehen, feiert man seinen Abschied nicht, wenn man einen Ort verläßt.”

Rituale spielen eine wesentliche

Rolle zur Bewältigung von Trauer. Ihre wesentlichste Bedeutung ist jene, „daß der einzelne Mensch in einer Krisensituation durch die Gemeinschaft” unterstützt und getragen wird. Er muß nicht reden, sondern ist geborgen in einer vorhandenen Form, die stellvertretenden Charakter hat, erklärt die Familientherapeutin.

In dieser Verweigerung eines Abschiedsrituals, im Verzicht auf Bituale überhaupt, beraubt sich der Mensch aber eines seiner bedeutendsten Lebens- und Energiereservoirs. „Jeder verdrängte Abschied kehrt zurück”, behauptet die Therapeutin. Episoden, Abschnitte unseres Lebens, die nicht richtig abgeschlossen werden, bleiben als unvollendete Geschichten in uns und tauchen früher oder später wieder auf. Manchmal im eigenen Leben, manchmal in der nächsten Generation. Nicht verarbeitete eigene Trauer kann etwa in Form von übermäßiger Ängstlichkeit auf ein Kind projiziert werden.

Die Kirche sei jene Institution, die heute noch Rituale anbiete. Allerdings, räumt Monika Salzer, die auch evangelische Pfarrerin ist, ein, werden auch in der Kirche „die ganz tiefen Gefühle nicht zugelassen”.

Trauernden fehlt es meist an

Ansprechpartnern, an einem Ort für ihre Gefühle und an spirituellen Angeboten. Deswegen bietet die Evangelische Krankenhausseelsorge in Zusammenarbeit mit dem „Zentrum für Seelsorge und Kommunikation” (SeKo) seit September Gottesdienste für Trauernde an (siehe Kasten).

Eingeladen sind alle Menschen, die in irgendeiner Form Trauer erleben. In der Gemeinschaft erfahren sie, „daß Trauer nicht umbringt sor/dern verbinden kann”, so Salzer. Resonder-heit der Gottesdienste ist, daß sie immer die gleiche Form haben. „Wir singen die gleichen Lieder, sprechen die gleichen Gebete, denn gerade in einem Zustand der Trauer ist es wichtig, Vertrautes zu finden und sich nicht anstrengen zu müssen”, erklärt die Pfarrerin.

Gute Trauerarbeit erweist sich nicht zuletzt als Effizienzfaktor. Weil das Verdrängen von Gefühlen kostbare Energie und in der Folge positive Motivation raubt, ist ein Arbeitgeber gut beraten, wenn er einem trauernden Arbeitnehmer Zeit gibt, seine Trauerarbeit zu leisten. Dies sei, so Salzer, ein Zeichen von „Professionalität” im Umgang mit Menschen.

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