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Woruber trauern wir?

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Am Feste des heiligen Kirchenlehrers Augustinus singt die christliche Kirche:

„Zu seiner Zeit wurde die Stadt Hippo von einem Heer der Barbaren belagert; während dieser Notzeit wurden Tränen das Brot für Augustinus bei Tag und Nacht; und unter diesem Ereignis starb er im Frieden.“

Ist es nicht seltsam, daß die Zeiten einander gleichen? Und wie sie einander ähnlich sind, so daß nichts Neues zu geschehen scheint und nur immer das ewig Gleiche und Alte, das Gestrige sich wiederholt — ?! Die Welt ist eine lange Weile. Und was weilt, ist diese unlernbare und immer wieder schwere Mischung von Blut und Tränen und Freude und Frivolität, von unscheinbarer Liebe und kindlicher Torheit und immer am Ende der Tod. Dies ist die Bedingung des menschlichen Lebens, gegen die wir keine Berufung einlegen können; so ist das Leben, das unser Leben ist.

Aber über das Hm des Menschen ist ein Schleier ausgebreitet, der die Gluten lindert und der gegen die Fröste schützt: die Trauer. Was uns zu schwer vorkommt, wird durch die Trauer erleichtert — denn die Trauer ist eine Kraft wider das Widrige. Was uns zu hart vorkommt, wird gemildert — denn die Trauer ist eine Kunst der Sanftmut. Was uns zu grell und zu leuchtend und allzugroß überfällt, erhält Menschenmaß — denn die Trauer ist mäßigendes Gewicht gegen jedes Uebermaß. Das Leben ist zwar unausweichlich, aber ein-trauerndes Herz will gar nicht ausweichen, w&l es das Leben dennoch kann.

Die Trauer ist der besänftigende Schleier über des Menschen Herz. Sie ist nicht gegen das Lächeln und nicht gegen die Tränen; im Gegenteil: erst die Trauer macht aus dem Lachen ein menschenwürdiges Lächeln und aus der Verzweiflung lockt sie die lösenden Tränen. Wer die Trauer vertreibt, drückt sich am Leben vorbei: der will nicht, was i s t, sondern was sein könnte oder gar sollte. Wer die Trauer nicht liebt,-flieht aus dem Gesetze der Schöpfung: der träumt eine Welt, die nicht ist und nicht sein wird. Es hilft nichts - nicBt die Vertreibung und nicht die Flucht. Es hilft unserem Herzen die Trauer Nicht, daß wir siegen, hilft sie. Daß wir überstehn! „Wer spricht von siegen?! Ueber-stehn ist alles!“, sagt Rilke. ' Das Leben bleibt sich gleich; es wiederholt sich immer wieder und ist eine lange Weile. Nur ist es für jede Zeit ein eigener Auftrag, diese ewige Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte selbst und verantwortlich zu überstehn. Alle Großen dieser Welt kannten die Trauer; alle Fürsten des Geistes und Täter der Ideen wußten um die Macht des traurigen Herzens. Aber Täter und Fürsten und groß wurden nur jene, die aus der Trauer nicht entflohen: sie bestanden sie bis zum Ende.

Bleibt auch das Leben gleich, so ist jedes große und tätige Herz doch immer wieder von neuem traurig und in der eigensten Trauer. Diese wird bestimmt durch das, worüber wir trauern. Es geht uns zwar allen, wie es dem heiligen Augustin ging — aber die Stadt, die wir bewohnen, ist unsere Stadt; und die Barbaren, die uns belagern, sind unsere Barbaren; und darum ist auch unser Weinen ein anderes und unsere Tränen sind anders unser tägliches Brot; darum wird auch zu unserer Zeit unser Tod anders sein. Von der Stadt bis zum Tod sind andere Räume und andere Zeiten und andere Menschen, deren Geschichte wohl gleich bleibt, deren Trauer dennoch anders ist, wenn auch keine andere als die der Menschen zu allen Zeiten und in allen Ländern.

W i r trauern als Menschen des 20. Jahrhunderts. Wir trauern über eine wehe Vergangenheit der letzten fünfzig Jahre. Wir trauern über Kriege, klagen über Trümmern, beweinen unsere Toten, umbeten unser Schicksal. Unser Schicksal und unsere Toten, unsere Trümmer und Kriege haben größere Ausmaße: der Toten sind viel zu viele; Trümmerhaufen sind über ganze Länder getürmt; die Kriege haben noch weniger Sinn und schon gar keinen Zweck mehr, da es keine Sieger und keine Besiegte mehr gibt, die einander durch Sieg und Niederlage gänzlich unähnlich geworden wären. Unser tägliches Brot sind Armut und Elend, Hunger und Heimatlosigkeit; Grauen im Herzen ob des vergangenen Schicksals,- das jeden traf und keinen schonte; Angst, die uns ausliefert an ein belagertes Leben. Das ist das Unsrige, worüber wir trauern. Wir trauern über eine undurchdringliche Zukunft; weniger denn je läßt sich voraussehen, was uns geschehen wird. Und mißtrauisch sind wir in uns selbst, da wir endlich lernten, daß wir aus der Vergangenheit nichts lernen: jeden Tag könnte sich wieder ein gleiche Politik einstellen, die wir überwunden glaubten. Die Öffentlichkeit unseres gemeinsamen Lebens ist unsicher; sie plant und sucht und gibt sich die Mühe, Bestes aus den Trümmern zu heben. Trotzdem bleiben wir voller Zurückhaltung — so sehr, daß viele der Jugendlichen nichts mehr wissen wollen vom öffentlichen Leben — wissend, daß es sie dennoch eines Tages wieder verschlucken könnte in gleichem Spiel wie schon so oft.

Wir trauern als Einzelne des 20. Jahrhunderts. Als Menschen voll Sehnsucht und Herz; Menschen voll Grauen und Resignation; Menschen, abgesondert aus eigenstem Leben und verpflanzt in eine Masse, darin wir wie Zahlen umhergehen müssen und verpflichtet uns fühlen, am ■ungeeigneten Ort uns einzusetzen, damit wir nur leben können mit täglichem Brot. Jeder von uns trägt so viele verweste Helden in sich: Möglichkeiten, die wir verpaßt haben, um groß und weit und lebendig zu sein. Wir tragen alle in uns zu viele Krüppel: mißglückte Stunden und Tage und Jahre. Wir spüren, wie die Technik die Erde zueinandergerückt hat und die Länder ineinandergeschoben hat, und müssen es erleben, daß wir eingesperrter sind denn je; daß wir weniger Möglichkeiten haben, eine gioße Welt mitzubesitzen als unsere Väter in ihren kleinen Welten und Städten es einst konnten.

Wir haben als Gemeinschaft und als Volk unsere Trauer: die Trauer darüber, daß das Leben uns von außen und von innen widersteht.

Weh dem, der dieser Trauer unterliegt — dem wurde sie in ihrer Tiefe vernichtet. Die Trauer

— dieser sanfte Wein wurde zu Essig, wenn einer in der Trauer versinkt; wessen Herz in der Trauer bitter wurde; wessen Geist in der Trauer verzweifelt; wessen Leben in der Trauer erstarrt ist. Nur wer die Trauer erträgt, wie ein Antlitz den Schleier gegen Hitze und gegen Kälte — der kann die Trauer und wird sie preisen.

Wozu aber — so fragen sich die Menschen — sollten wir die Trauer ertragen? Wozu diese befremdliche Kraft in der befremdenden Ohnmacht vor dem Leben? Und: woher kann solcher Mut wachsen zur Trauer? Woher kommt die Kraft, daß sie der Verzweiflung und der Bitternis, dem Meer des Lebens widerstehen könnte, das über uns zusammenschlägt, ohne nach unseren Sehnsüchten zu fragen?

Wer ein wenig vertraut ist mit der Lebensgeschichte Christi — und das sollte doch eigentlich jeder Europäer aus Interesse an jener Persönlichkeit sein, deren Geist bis auf den heutigen Tag das Abendland geformt hat — wer in der Lebensgeschichte Christi nachliest, wird nie berichtet finden, daß der Meister gelacht hat; aber mehrmals lesen wir, er habe geweint. Und wir lesen von der Freude bei Ihm nur als einer Verheißung an die Jünger — nicht von der Freude als Wirklichkeit im jetzigen Leben. Und wir lesen: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod!“ — das heißt doch, daß die condition humaine, das Lebensgesetz des Menschen, auch von Christus gekannt und erkannt, getragen und ertragen werden mußte. Die Trauer gehört zum Menschen, wie der Mensch zur Schöpfung gehört; aber zum jetzigen Menschen in der jetzigen Schöpfung. Mußten Mensch und Schöpfung notwendig so sein, wie sie jetzt sind? Es ist zu viel Schuld in allem: zu viel verfehltes und verpaßtes, zu viel versündigtes Leben und zu wenig oder gar keine Erlösung. Und: „Die Gestalt dieser Welt vergeht.“ Die Sünde einerseits und anderseits die Vergänglichkeit des Geschaffenen — dies ist der tiefe Grund dafür, daß die Welt so mühsam ist und im argen liegt. Dies ist der Grund für die Trauer des Menschen. Wer an seine wirkliche Schuld glaubt; und wer an seine wirkliche Vergänglichkeit glaubt — dessen Trauer ist ein Segen und kein Fluch. Dessen Trauer ist eine Barmherzigkeitund Gnade--nicht Resignation und Eitelkeit.

Denn hinter der Sünde steht die Erlösung durch Christus. Und hinter der Vergänglichkeit dieser Welt steht die Verheißung des neuen Himmels über der neuen Erde.

Wir können und wir müssen trauern in dieser nh sie tbryiwmQ r.woibod ssdaitt göuäUansv jiÄ i383ib rbnni3 srlpiliߣis verwirrten, verwirrenden, langweilenden Welt. Aber die Trauer über unsere Schmerzen und unsere Leiden am Leben ist ein dunkler Schleier, der einen lichten Saum hat. Nicht um zu entweichen ist die Trauer in uns, sondern um zu überstehn: Leid und Not, Stadt und Stern, Belagerung und Befreiung, Barbaren und Freunde — das Ganze des Lebens wird gelebt. Darum ist nicht das Leben traurig, sondern das Erleben des Lebens macht traurig; der Trauernde kann Nihilist werden, aber er kann auch Ja sagen zur wirklichen Wirklichkeit, zum gelebten Leben. Dann muß er seine Schuld sich eingestanden haben: daß wir vor Gott und voreinander alle schuldig wurden Und er muß eingesehen haben im Glauben, daß die Gestalt dieser Vergänglichkeit vergehen und die Unvergänglichkeit kommen wird. Macht unsere Gegenwart uns dann traurig, so wird unsere Trauer gesegnet sein.

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