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Es gab zwei Bernard Shaws

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EIN NEGERMÄDCHEN SUCHT GOTT. 120 Seiten. Preis 4.80 DM. - SECHZEHN SELBSTBIOGRAPHISCHE SKIZZEN. 200 Seiten und 16 Bildtafeln. Beide von George Bernard Shaw. Bibliothek Suhrkamp mit Genehmigung der Artemis-Ver-lags-AG, Zürich. Übersetzungen von Siegfried Trebitsch.

Shaws berühmtes Kleinwerk, „The Adventures of a Black Girl in her Search for God“, ist mit dem geistigen Verstand und mit der stilistischen Überlegenheit eines Voltaire geschrieben. Das schwarze Mädchen, auf der Suche nach Gott, wandert von Ort zu Ort und begegnet unterwegs allerlei Dingen und Menschen. Die Reise führt es auch zur Bibel: Gestalten wie Moses und Petrus tauchen vor dem Mädchen auf, bringen aber alle nicht das, was es sucht. Viele Leser werden sich noch an das Erscheinen der Briefe Shaws 1958 an die Äbtissin Laurentia vom bene-diktinischen Kloster Stanbrook in England erinnern und an die Überraschung, die man bei der Feststellung empfand, der Freidenker Shaw habe 30 Jahre lang zur Äbtissin eine enge freundschaftliche Beziehung gehabt. Die hochkultivierte Klosterfrau, die dazu den trockenen Humor und die robuste Nüchternheit ihrer schottischen Ahnen besaß, hatte schon hinlänglich Gelegenheit gehabt, Shaw von vielen Seiten kennenzulernen, aber das „Negermädchen“ war ihr zuviel. Zutiefst entrüstet, bat sie ihn, das Buch einstampfen zu lassen; sie machte ihn auf die verheerende Wirkung aufmerksam, die diese Lektüre auf leicht beeinflußbare Menschen haben müßte. Sie bat ihn vergebens und brach ihre Beziehung zu ihm ab. Das Schweigen zwischen den beiden — es begann 1934 — dauerte lang, wurde aber dadurch beendet, daß Shaw eine kleine Klappkarte zugeschickt bekam, welche die Schwestern der Abtei zur Feier des goldenen Ordensjubiläums der Äbtissin gedruckt hatten. Shaw nahm sie für eine Todesanzeige und schrieb einen bestürzten Kon-

dolenzbrief, den die noch rüstige Mutter Laurentia gerührt und vielleicht ein wenig erheitert zum Anlaß nahm, die Fehde zu beenden.

1856 geboren, 1950 gestorben, war weniger die Länge seines Lebens, als die höchst seltene zeitliche Ausdehnung seiner schöpferischen Vitalität bemerkenswert. Ihm Mangel an geistiger Integrität, vor allem in seinen späteren lahren, vorzuwerfen, war sicherlich berechtigt, gleichzeitig aber ungerecht. Denn es gab zwei Shaws: Den Mann, den Mutter Laurentia kannte und ehrte, den Asketen, von dem Chesterton behauptete, er habe etwas, das ihn in einer ruhigeren Zeit zu einem großen Heiligen befähigt hätte. Und es gab „G. B. S.“, eine allmählich Narrenfreiheit genießende Projektion des Genies George Bernard Shaws. In den „selbstbiographischen Skizzen“ sind beide Shaws zu erkennen, wenn auch die Erzähl- und Überredungskünste des alten Zauberers jede klare Unterscheidung unmöglich machen. Wenn man nicht gerade jedem Katholiken empfehlen kann, schnurstracks in die nächste Buchhandlung zu laufen, um sich Shaws „Negermädchen“ anzueignen, wäre eine solche Handlungsweise, was die Skizzen anbelangt, sehr vernünftig. Trotz der darin vorkommenden Wiederholungen sind diese Essays und Briefe ein reines Vergnügen, auch für den Leser, der die Werke Shaws kaum oder gar nicht kennt. Inhaltlich hoch interessant, sind sie auch ungemein unterhaltend, hat ja Shaw während seines langen Lebens wahrscheinlich kaum einen langweiligen Satz geschrieben.

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