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Fluchtweg eines Intellektuellen

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EFRAIM. Roman von Alfred Andersch. Diogenes-Verlag, Zürich, 1987. 470 Seiten, Leinen. S 123.50.

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EFRAIM. Roman von Alfred Andersch. Diogenes-Verlag, Zürich, 1987. 470 Seiten, Leinen. S 123.50.

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Andersch ist von dem Motiv der Flucht fasziniert. Es taucht in den verschiedensten Variationen in seinen Büchern auf, und oft bringt er es in Verbindung mit dem Problem der Freiheit. Da gibt es die Flucht aus äußeren Zwangssituationen, und die andere aus geistigen und seelischen Gründen. Die Flucht von Verfolgten, als letzte Möglichkeit, das nackte Leben zu retten, aber auch die von Menschen, die diesen Ausweg wählen, um ihre individuelle Freiheit zu wahren oder erst zu erringen.

In dem Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ setzte Andersch sich mit der Desertion (der eigenen) auseinander, und mit den Grundsätzen der marxistischen Heilslehre, die schließlich verworfen werden.

Wir sind auf diese Problematik so ausführlich einigegangen, weil in Anderseits letztem Roman „Bfraim“ sein Grundthema wieder aufscheint. Sein Held, der eigentlich ein Antiheld ist, versucht, vom Journalismus in die Literatur zu fliehen, um vom Beschreiben und Berichten über Tagesereignisse zum schöpferischen Gestalten vorzudringen. Er beginnt einen Ich-Roman zu schreiben, mit dem bewußten Vorsatz, aus sich eine „Kunstfigur“ zu machen, was ihm dann freilich nicht gelingt, wie später noch auszuführen sein wird.

Zunächst hier seine Geschichte. Efraim entstammt einer deutschjüdischen Familie, der es gelang, ihn als Kind, während der nazistischen

Verfolgungen, nach England zu bringen. Dort wird er später Korrespondent einer Wochenzeitung. Nach großen Erfolgen in Asien, deren Niveau Efraim nicht halten kann, wird er nach Rom versetzt. Von dort dirigiert ihn sein Chefredakteur Keir Home nach Berlin mit dem zweifachen Auftrag, die Einstellung der Bevölkerung zur Kubakrise zu studieren und das Schicksal seiner Jugendgefährtin, der Halbjüdin Esther Bloch, auszuforschen, die eine uneheliche Tochter Homes ist. Efraim stellt dabei fest, daß sein Chef nichts zur Rettung seines Kindes aus den Händen der Nationalsozialisten getan hat.

Weitere Rückblendungen zeigen Efraim in London, seine Beziehungen zu seiner Frau Meg, die durch seinen Mangel an Entscheidungs- kraft in die Brüche gehen.

Efraim zeigt sich in allen Fällen als ein in seine persönliche Problematik versponnener Kauz, als, wie er es selbst formuliert, „typisches Produkt einer bürgerlich-jüdischen Familie aus dem alten Preußen, ein Puritaner in Reinkultur..Die Welt ist für ihn eine Stätte des Zerfalls und des Chaos“, in der das Schicksal mehr von äußeren Umständen, als vom Willen des Individuums bestimmt wird. Er ist ein Skeptiker und Zweifler, und diese Einstellung verhindert jede positive Lösung, auch den Versuch, im Roman, durch sprachliche Gestaltung seines Lebenswegs, zu sich selbst zu finden.

Er erfährt, was Andersch von sich als Autor in einem Interview bekannt hat: „Wenn man sich entschließt, ein Buch in der ersten Person Singular zu schreiben, dann erlebt man, daß man nach einiger Zeit nichts mehr weiter ist als der Protokollant dessen, der da berichtet.“ Ganz ähnlich Efraim, der am Schluß seines Buches den Sinn seines Versuchs in Frage stellt, bei dem er nur sich gelber demaskiert habe. „Vielleicht ist es sogar gleichgültig, ob ich überhaupt geschrieben habe, oder ob ich nicht vielmehr geschrieben worden bin...“

Diese doppelte Resignation — des Autors und seines Helden, den er einen Roman schreiben läßt — kann nun nicht bedeuten, daß Andersch die Fäden aus der Hand geglitten sind. Er liefert im Gegenteil ein kunstvoll aufgebautes Mosaik, in dem ein Sternchen sich ins andere fügt. Und er hat für sein Thema die vollkommene Entsprechung von Gehalt und Gestalt gefunden. Kein geringes Lob fürwahr, dias man nur wenigen Neuerscheinungen des vergangenen Herbstes spenden kann.

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