7102403-1995_16_24.jpg
Digital In Arbeit

Die Stadt, die Kemal Atatürk nicht liebte

Werbung
Werbung
Werbung

Wer Istanbul kennt und liebt, wird über Wolfgang Günter Lerchs Buch „Istanbul” nostalgische Fernweh-Gefühle bekommen, wer es nicht kennt, Lust auf den einen oder anderen der von Hermann Dornhege fotografierten Blicke und Plätze.

Lerch, der unter anderem Islami-stik studiert hat und für die „Frankfurter Allgemeine” schreibt, ist ein impressionistischer Erzähler, er vermittelt das Stadterlebnis Istanbul und auch manches von Istanbuls Geschichte, auch kontroversielle Themen werden gestreift, ebenso die Zeit des Kemal Atatürk und dessen positive wie negative Bedeutung für die Türkei und deren einstige Hauptstadt.

Freilich, Atatürk hat Istanbul nicht geliebt, was einer der Gründe dafür war, daß er eine neue Hauptstadt - Ankara - gründete. Und zwar an einem durch die Talkessellage klimatisch eher grauenhaften Ort. Und er ist dann nicht einmal in diesem seinem geliebten Ankara gestorben, sondern in Istanbul, obendrein in einem alten Sultanspalast.

Einige Sätze über die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei in Lerchs Buch erscheinen mir, trotz des subkutan kritischen Untertones, etwas euphemistisch.

Aber es handelt sich ja wohl vor allem um ein Buch für Istanbul-Touristen in spe oder Menschen, die Istanbul-Erinnerungen pflegen, und da sind Wahrheiten, die als Unfreundlichkeiten ausgelegt werden könnten, nicht angesagt.

Die freundliche, die Sonnenseite Istanbuls kommt, ohne daß die Schattenseiten ausgespart werden (die Armut, die Tausenden Zuwanderter, die täglich nach Istanbul strömen und hier ein besseres Leben zu finden hoffen, der Fanatismus) denn auch voll zur Geltung.

Tiefe Zuneigung zu Istanbul und zur Türkei spricht auch aus jenen Teilen des Buches, in denen der Autor das vom jahrhundertelangen Antagonismus zwischen Abendland und Islam. verzerrte Bild Europas von der türkischen Geschichte korrigiert. Hier leistet er auf unaufdringliche, populäre, lesbare Art wertvolle und seriöse Aufklärungsarbeit. Etwa, wenn er dem Westen vorhält, während des griechischen Befreiungskampfes nur die türkischen Massaker an Griechen (etwa auf der Insel Chios), nicht aber die griechischen Gewalttaten an Muslimen zur Kenntnis genommen zu haben.

Da kann er so gar richtig bösartig werden: „Man ließ sich von der Vorstellung irreleiten, der Geist der Antike, eines Achill oder Patroklus, habe in jenen besseren Räuberhauptmännern eine Wiedergeburt erlebt, die damals die Herrschaft des Sultans auf dem griechischen Festland abschüttelten. Aversionen gegen die Muslime, Sympathien für die christlichen Griechen, philhellenische Romantik trübten den christlichen Rlick für die Wirklichkeit.”

Fazit: Ein Buch, dessen Lektüre sich vor allem vor einer Reise nach Istanbul zur Einstimmung oder nach der Heimkehr zur Vertiefung der Eindrücke empfiehlt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung