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Gedanken über Schrift

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Welch ein Gottesgeschenk besitzen wir Menschen in der Schrift! Mit ihr geben wir der schnell verhallenden Sprache Dauer, mit Schriftzeichen erwecken wir unsere Gedanken erst zum Leben, und ohne Schrift hätten wir keine Kunde von unseren Vorfahren. Trotzdem reihen wir oft Buchstaben an Buchstaben, formen Wörter, und Wörter zu Sätzen, dabei nicht achtend, was für eine Bedeutung schon dem einzelnen in der Schrift festgehaltenen Worte innewohnt.

Es kommt nicht auf die Form des Buchstabens an; im krausesten Schriftzeichen wohnt die gleiche Kraft wie im schönstge- schriebenen. Die Gewalt der Schrift ist unabänderlich. Sie kann zur Fanfare der reinsten und glücklichsten Freude werden, sie kann das Schmerzlichste bedeuten, sie kann der Tod sein. Darum sei gesegnet die Hand, die Buchstaben schreibt und zu Worte formt, die der Menschheit zum Glücke wurden; verdammt aber jene, die durch Schrift uns Menschen Leid und Tod gebracht.

Die Schrift ist uralt. Vom Urlaut des Menschen zur Sprache, vom ersten Merk- (Erinnerungs-)zeichen bis zum heutigen vollendeten Alphabet vergingen Jahrtausende. Sprache und Schrift müssen ursprünglich in der Idee eins gewesen sein. Doch niemand vermag die Zeit und Umstände dieser Einheit anzugeben und zu bestimmen; und wenn dies auch einer könnte, so wäre damit noch nicht das Wesen der Idee ausgemittelt. Die Elemente der Schrift sind religiös und müssen in Religion, als dem Wesen des Geistes, gesucht werden.

Aller Forschergeist hat bis heute nicht die Geburtsstunde der Schrift feststellen könne . Bei allen Erfindungen oder Errungenschaften, wo der Ursprung oder die Geburtsstunde nicht ermittelt werden kann, spielt die Sage eine beträchtliche Rolle. Es gibt daher neben der lückenhaften wissenschaftlichen Erklärung über die Entstehung der Schrift eine sagenhafte. Hier wird erzählt, daß der Phönizier Kadmus (phönizisch = Osten) die Schriftzeichen (Alphabet) nach dem Ajpend- lande gebracht habe. Diese sagenhaft Auslegung der Geburtsstunde der Schrift wird insoweit der Wirklichkeit gerecht, daß tatsächlich die Schrift aus dem Morgenlande zu uns ins Abendland gekommen ist. Die Entstehung der Schrift ist eng verknüpft mit der menschlichen Kultur.

Das geheimnisvollste Kapitel bei der Schrift ist: ihr Seelenleben, oder wie die Wissenschaft es bezeichnet, die Psychologie. Schrift ist genau so ein Schicksalsbegriff eines Volkes wie sein Baustil. Die „Seele” einer Schrift spiegelt die künstlerische und sprachliche Kultur eines Volkes wieder. Man nimmt an, daß die Schriftzüge eines Individuums keine zufällige Form haben, sondern Charaktereigentümlichkeiten aufweisen. Zweifellos hat diese Annahme Berechtigung; Tatsache bleibt, daß jede Linie der Sdirift Ausdruck ist. Kommt im Leben eines Volkes die Kunst zu neuen Formen, so wird sicher auch in einem einzelnen kleinen aber wichtigen Sondergebiet — in der Schrift — der Formenausdruck sich verändern.

Ein anderes Kapitel bei der Schrift ist die Lesbarkeit. Für das flüchtige Erfassen, leicht: und richtige Lesen ist eine gebrochene Schrift überzeugender. Denn es ist erwiesen, daß für das leichte Lesen nicht das Sehen der Einzelform, sondern das Erfassen und teilweise Erraten ganzer Buchstaben entscheidet.

Seit der Erfindung Gutenbergs, der zum erstenmal die Handschrift in eine Druckschrift umwandelte, müssen wir auch die Druckschrift einbeziehen in das Gesamtbild der Schrift. Auch hier müssen wir von einem Schrift„charakter” sprechen. Zwar ist die Druckschrift kein’ zufälliges Augenblicksprodukt wie die Handschrift, sondern Schöpfung einer Hand, die mit Überlegung und Einsicht geführt wurde. Mitbestimmend bleibt bei beiden Schriftarten: In den Tagen des geschriebenen Buches haben die technischen Hilfsmittel zum Schreiben die Schriftzeichen beeinflußt; so haben auch die Drucktypen durch ihre technische Herstellungsweise ihre „besondere” Gestalt. Die DruckschrT neigt mehr zum Statischen, hingegen sucht man bei der Handschrift vergeblich nach dem Dynamischen.

Heute heißt das Gesetz der Schrift: das Wort verlangt nach einer entsprechenden äußeren Gestalt, da doch die Schrift die Fähigkeit hat, schon durch ihre Erscheinung gewisse Assoziationskreise zn bilden nnd auf diese Weise der Aufnahmsfähigkeit des Lesenden zu Hilfe zu kommen (oder zu stören). Heutzutage will man aber nicht nur lesen, sondern will gleichsam bildlich erschauen, was die Schrift an Spannungsmomenten mitteilt. Dieses Vorhaben, die Schrift mit Spannungsmomenten zu versehen, erinnert an den Versuch, den man vor Jahren machte, philosophische Systeme im

Film, also durch Bilder, zu erklären. Ja, der Russe Eisenstein ging daran, die Philosophie Marx filmisch darzustellen. Die illustrierende Schrift will der Kopfsprung sein, mit dem man sofort in der vorgelegten Drucksache sich zurechtfinden soll.

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