6606424-1954_21_13.jpg
Digital In Arbeit

Das gedruckte Wort

Werbung
Werbung
Werbung

Für viele Leser erscheinen oft Zeitungs- und Buchseiten in ihrer verwirrenden Schriftganzheit wie ein Landsknechthaufen, dem ein zufälliger Geist und eine Zweckmäßigkeit Marschziel und Kampfplatz zugeschrieben haben. Ja, manche sehen in den Buchstaben, mit denen Wörter und Sätze gebildet werden, ein totes Material,, weil sie vergessen haben, daß wir ohne Schriftzeichen seht’ arm geblieben wären. In der Schrift strömen alle geistigen Kräfte zusammen, kristallisieren sich alle Gedanken, die nicht auf mündlichen Ausdruck, auf persönliche Mitteilung beschränkt sind. Unsere symbolischen Zeichen für das Alphabet — Buchstaben oder Lettern genannt — haben eine Riesen- autgabe zu bewältigen, empfangen sie doch die Ströme des geistigen Lebens, schöpferischen Willen, unter dessen Einfluß sie sich zu Worten und Sätzen formen. Man braucht daher kein Phantast, kein Spintisiere! zu sein, tritt man in ehrfurchtsvolle Beziehung zum gedruckten Wort.

Die Herrschaft der Letter ist in jedem Kultur- raum, unbegrenzt; sie kam nicht allein als Königin zu den Menschen, sie wurde ergebenste Dienerin eines jeden Volkes. Kein Bezirk des menschlichen Denkens ist der Schrift fremd; spiegeln sich doch in ihr nicht nur die Höhen reinster Geistigkeit wider, ihr sind auch die Niederungen des menschlichen Lebens bekannt; die wechselnden Bedürfnisse und Nöte des Alltags und die den Werktag verklärenden Worte des Dichters finden in ihr den sprechenden Ausdruck. Jeder von uns hat schon in den gedruckten Sätzen leidenschaftliche Aeuße- rungen der menschlichen Seele gelesen, das stille Suchen nach ewigen Wahrheiten, menschliche Gemeinheit und Charaktergröße. So wohnt den Buchstaben, die wir oft achtlos in der Handschrift nebeneinanderreihen oder denen wir auf gedruckten Seiten begegnen, eine unabänderliche Gewalt inne. Die Schrift ist zur Notensprache des Geistes geworden.

Es liegt daher in allen- bisher geschaffenen Alphabeten ein Reichtum, eine Fülle schöpferisch ausdeutender Möglichkeiten, auch wenn der Schöpfungsakt nur eine enge Werkstatt füllt. An jeder Letter arbeitete einmal einer, dem der Herzschlag schaffenfrohen Blutes in dem gestaltenden Finger saß, weil er wußte, mit diesem Buchstaben und den anderen kann eine Mitteilung herausgebracht werden, die die Quelle reinster Freude, aber auch das Schmerzlichste bedeuten, ja selbst den Tod herbeiführen kann.

Von dem griechischen Philosophen Heraklit, der um 500 vor Christus in Ephesos lebte und wirkte, stammen die Worte: Des Daseins eigentlichen Anfang macht die Schrift! Verfolgen wir das Entstehen und die Entwicklung der Schrift, so treffen seine Worte zu. Das Schriftwerden liegt bei der ganzen Menschheit, es ist nicht an Ort und Zeit gebunden und bildet eines der geheimnisvollsten Kapitel der Geschichte der Welt. Trotz allem Forschergeist ist es bis heute nicht gelungen, das Phänomen der Schrift zu ergründen: die Geburtsstunde der Schrift ist in ein unerklärliches Dunkel gehüllt. Beugen wir uns daher vor diesem Dunkel des Werdens und üben wir zuweilen eine gewisse Besinnlichkeit, wenn wir selbst Buchstaben an Buchstaben reihen oder vor einer Seite mit gedrückten Buchstaben lesend sitzen.

Es gab eine Zeit, da nannte man die Buchstaben in Liedern und Sentenzen „Bleisoldaten". Vielleicht berührt dieser Ausdruck beim ersten Hören als primitiv; wer aber dem dienenden Grad des Soldaten, sein In-Reih-und-Glied-stehen, sein immer wieder besungenes Tapfersein vor dem Feinde aus diesem Ausdruck herauszuhören versteht, der weiß, daß nur die große, verstehende Liebe zur Schrift den stummen Bleistab, die Letter, so auszuzeichnen verstand.

Der Meister in Mainz, Johannes Gutenberg, schuf vor zirka 550 Jahren die Erfordernisse, daß wir setzen und drucken können; und so wollen sie alle gedruckt sein, der Apostel Paulus, der Heilige von Assisi, Matthias Claudius, Hölderlin, Rilke, Schopenhauer, Fichte, die vergangenen und zukünftigen Dichter, Philosophen und Gelehrten.

Die Letter ist daher nicht das Leichengesicht des toten Materials, sondern trägt den Atemzug des Lebendigen. Nicht nur der Rhythmus der Zeit, sondern auch der eines Volkes ist in der Schrift verborgen. Das wird augenscheinlich, wenn wir einige Zeilen griechischen Textes neben die eines englischen oder deutschen stellen.

Daher noch einmal: Haben wir Bedacht vor dem gedruckten Wort! Im krausesten Schriftzeichen wohnt wie im schönstgeschriebenen die gleiche unabänderliche Kraft. Darum gesegnet die Hand, die Buchstaben schreibt und zu Worten formt, die für die Menschheit zum Glücke wurden; verdammt aber sei jene, welche Schriftzeichen benutzte, die der Menschheit Tod und Verderben brachte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung