Lektorix - © Illustration: Michael Szyszkas

"Nebenan ist doch weit weg": „Niemka“ findet ihren Weg

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Wie sich ein 12-jähriges Mädchen in einem neuen Land orientiert.

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Wie sich ein 12-jähriges Mädchen in einem neuen Land orientiert.

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„Aber die Zeit interessiert das nicht. Die Sekunden, Minuten, Stunden scheren sich nicht um ein zwölfjähriges Mädchen, das irgendwo in Berlin zwischen den Scherben seines Lebens hockt.“ Zeit ist für die 12-jährige Edith bedeutend: An dem einen Ort hat sie zu wenig, an dem anderen hingegen zu viel. Dass ihre Eltern in das Land ziehen wollen, in dem sie sich kennengelernt und studiert haben, ist für die Tagebuchschreibende Ich-Erzählerin wenig nachvollziehbar.

Für sie bedeutet es tiefgreifende Veränderung, Abschied von Vertrautem – Freundinnen, Nachbarinnen und Nachbarn, Heimat – und Neuorientierung in der Fremde. Genauer gesagt in Polen, Krakau. Dort angekommen beschreibt Edith ihre Entwurzelung und Verunsicherung undramatisch, schwelgt in Erinnerungen an Berlin und ihre beiden besten Freundinnen, die nun ohne sie die Schulbank drücken, freut sich jedoch auch immer wieder über kleine sprachliche und soziale Erfolge. Dabei fließt die Schwierigkeit, eine neue Sprache zu lernen, die mit „Vokalen sparsam“ umgeht, ebenso mit ein wie die Verunsicherung in der Schule, wo sie zu Beginn nur als „Niemka“ bezeichnet wird, „die Deutsche“.

Formal wechselt der Roman zwischen Passagen aus der Ich-Perspektive und Ediths Tagebucheinträgen; so gelingt eine doppelte Innensicht der Protagonistin, die erst mit der Zeit und nicht ohne Polen mit Deutschland in Beziehung zu setzen, im neuen Land ankommen kann. Schließlich findet sie in Milena (die auf Jesus und den ehemaligen polnischen Papst Wojtyla vertraut) und Antek zwei Freunde, mit denen sie Ausflüge ins jüdische Viertel Kazimierz unternimmt und einen geheimen Raum in Ediths Haus entdeckt – samt einem Bündel Briefe von Kaya und Elias. Die Kinder beginnen, geleitet von ihrer Neugierde, auf eigene Faust zu recherchieren – finden den Namen der ursprünglichen Hausbesitzer sowie den aktuellen Aufenthaltsort von Elias heraus und setzen sich mit ihm in Verbindung. Bei alledem wird die schwierige deutsch-polnische Vergangenheit (der Krieg, das Ghetto, Auschwitz) immer wieder spürbar. Was bei Edith zu Misstrauen führt, da sie darüber nichts weiß, wird von ihren Eltern zurückhaltend mit notwendigen Erklärungen aufgelöst. Misstrauen und Überforderung ob der neuen Sprache und Umgebung werden auch in integrierten Schwarz-Weiß-Illustrationen spürbar, die die Komplexität der polnischen Sprache ausloten, als eine Art Wörterbuch fungieren und einmal mehr versinnbildlichen, dass es Zeit braucht, anzukommen und sich neu einzurichten.

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