6975206-1985_44_12.jpg
Digital In Arbeit

Das entschwundene Wort

Werbung
Werbung
Werbung

Um diese Stunde gähnte die Straße leergekehrt, weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen. Aber als der ältere Herr trotz Rotlicht für Fußgänger die Kreuzung überqueren wollte, hielt ihn eine sanfte Stimme zurück: „Tun Sie's nicht, es wäre eine Sünde.“

Eine Sünde? Was für ein seltenes Wort, längst aus dem Vokabular des menschlichen Umgangs gestrichen — und in diesem Fall doch wohl zu pathetisch! Eine minimale Gesetzesüberschreitung, nicht mehr, und insofern, nun ja, eine kleine, läßliche Sünde.

Gewiß, sagte die Stimme unbewegt, gewiß, aber wo die Begriffe fehlen, breitet sich das Übel aus. In der Tat, wer spricht denn heute, in unserer chaotischen Zeit, von Sünde, wenn einer etwas Unrechtes tut?

Der Winzer, der den Wein verfälscht, mag dabei ein ungutes Gefühl gehabt haben, aber an Sünde hat er sicher nicht gedacht.

Der Mann, der die Frau seines Freundes erobert, ist eher stolz darauf, als daß er sich ein Gewissen daraus machen würde — und wenn, dann doch jenseits aller Theologie. Der Financier, dem ein krummer Coup gelungen ist, ist so lange glücklich, bis er ertappt worden ist. Der geschickte Steu-erhinterzieher erregt gar noch Bewunderung, und der ungeschickte wird allenfalls der Dummheit bezichtigt, nicht einer Sünde.

Der Politiker endlich, der ganz bewußt falsche Anschuldigungen gegen seinen Gegner erhebt, hält das für eine Selbstverständlichkeit im Kampf der Parteien, nie und nimmer für eine Sünde.

Die Besseren, die werden sicherlich manches aus Anstand unterlassen, aber keiner, der sich als moderner Mensch fühlt, wird auf die Idee kommen, er müsse trachten, eine Sünde zu vermeiden. Nein, er folgt eben einem Ge-hörtsichnicht. Und wenn in einer Gazette zu lesen stünde, der Mörder habe mit seiner Tat eine schwere Sünde begangen, würde das fraglos belächelt werden. Er hat getötet, gemordet, was immer, er war ein Räuber oder ein anderer war eben ein Dieb, aber einen Sünder nennt man ihn nicht. Ja, wenn jemand eine Verkehrsregel überschreitet, dann ist er ein Sünder, nämlich ein Verkehrssünder, was aber, bei Gott, nichts mit diesem zu tun hat.

Der Begriff Sünde ist aus un-serm Leben getilgt, von der Technik überrollt, ins Abseits getrieben. Was wundert uns der allgemeine Verfall? Der weise Chinese hat es schon gesagt: Wo die Begriffe fehlen...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung