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Der Wunderwürfel

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Chchchchch… ? Nein, so hört es sich nicht an, das verflixte Geräusch, das seit mehreren Wochen nicht mehr aus den Ohren gehen will. Vielleicht: krkrkrkrk? Nein, der widrige Lärm, der sich nun auch noch in meine unruhigen Träume geschlichen hat, hört sich anders an. Krchkrchkrch… oder so ähnlich. Nach gequetschtem, gerubbeltem Kautschuk hört es sich an. Unappetitlich schnarrend, schrecklich knarrend.

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Chchchchch… ? Nein, so hört es sich nicht an, das verflixte Geräusch, das seit mehreren Wochen nicht mehr aus den Ohren gehen will. Vielleicht: krkrkrkrk? Nein, der widrige Lärm, der sich nun auch noch in meine unruhigen Träume geschlichen hat, hört sich anders an. Krchkrchkrch… oder so ähnlich. Nach gequetschtem, gerubbeltem Kautschuk hört es sich an. Unappetitlich schnarrend, schrecklich knarrend.

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Das Geräusch ist überall. In Wartesälen von Bahnhöfen, in Wartezimmern von Zahnärzten, in Schulstuben und Hörsälen, ja selbst in Krankenzimmern und im Kino. So spanrtend kann kein Film, so wichtig keine. Vorlesung sein: Krchkrchkrch … ! Dreht sich da vielleicht etwas?

Ihr habt es erraten: da dreht sich was, korrekter: da wird etwas gedreht. Einmal rechts herum, dann links herum, dann kurz dra]uf geschaut, dann das ganze in der anderen Richtung, dazwischen ein Doppelaxel um das Handgelenk und eine eingeschwungene Fingerpirouette.

Farben blitzen, setzen sich zu größer und kleiner werdenden Quadraten und Rechtecken zusammen, verschwinden wieder.

Nervöses Fingerzucken, Mundwinkel zittern, Augen glänzen hoffnungsvoll. Die Welt versinkt um die Verzückten und ihr Fingerspiel. Die Stille im Raum nähme zu, wenn sie nur könnte.

Was bleibt, ist das Knarrquietschen des mißhandelten Objektes — des Würfels: Ja, Freunde, vom Würfel berichte ich, vom milliar-denfach vermaledeiten ungarischen Wunderwürfel, der sich -sieht man nur genauer hin - als Megawürfel, als Würfel der Würfel entpuppt.

Was ist wichtiger als der neueste Hit in der Schlagerparade? Der Würfel. Was ist interessanter als das Ergebnis des Heimspiels der vormals geliebten Fußballmannschaft? Der Würfel. Was ist wichtiger als der Jugend verbotene Krimi im Spätprogramm? Der Würfel. Was ist begehrenswerter als ein erwartungsträchtiges Rendezvous am Frühabend? Der Würfel. Was lenkt vom Moped ab, das man doch nicht zum Geburtstag geschenkt bekommen hat? Der Würfel.

Ja, ist denn das so schlimm?^ Fachleute der Didaktik der Mathematik (in meiner Mathe-Ausbildung gab’s die noch nicht, sonst wäre möglicherweise aus mir der Würfel-Erfinder geworden) behaupten, daß der Wunderwürfel eine durchaus pädagogische Angelegenheit sei. Er schule Beobachtungsgabe, Kombinationsvermögen, Fingerfertigkeit und Geläufigkeit der Handgelenke. Das mag alles so sein, aber was ist das gegen seine schädlichste aller Wirkungen: seine Kraft zur Sprengung jeder Autorität, insbesondere der meinen!

Vor zwei Monaten kam mein, ansonsten mir noch nicht durch besondere Hinterträchtigkeit aufgefallener Neffe Erich-Thomas zu mir an den Schreibtisch. Die Eltern hatten ihn während eines Einkaufswochenendes bei mir deponiert. „Onkel GEO", gurrte er sanft, „Du kannst doch alles!"

„Also, alles würde ich nicht unbedingt …" murmelt ich geschmeichelt und sann nach einem noch etwas größeren Weihnachtsgeschenk für Erich-Thomas, als ich es mir ohnedies schon ausgedacht hatte.

„Kannst Du auch den Würfel?" und er hielt mir den bewußten Würfel mit dem unschuldigsten Lächeln, zu dem er fähig war — und das war nicht wenig — vors Gesicht.

Ich konnte den Würfel natürlich nicht. Ich schützte eine unaufschiebbare literarische Aufgabe vor und entledigte mich des unangenehmen Problems durch ein (später vor den Eltern geheimgehaltenes) Sondertaschengeld sowie durch die Versicherung, das nächste Mal ausreichend Zeit zu haben — und den Würfel dann auch zu können.

So gewann ich knapp sechs Wochen Zeit. Ich kaufte mir mehrere Ubungswürfel sowie einen in Wettbewerbsausführung, mehrere einschlägige Taschenbücher und einen Videotrainer, der sich jedoch später als nicht besonders effektiv herausstellte und überdies nicht von der Einkommensteuer abgesetzt werden konnte. Ich begab mich in mehrere kubale Klausuren und besuchte an der örtlichen Volkshochschule einen Einführungskurs für spätberufene Würfeldreher sowie einen Per-fektionierungskurs für angehende Wettbewerbswürfler.

Doch was ich auch unternahm, der Würfel gelang mir nicht. Ich drehte und wendete, schnippte und kippte: einmal stimmte die eine Seite, dann die andere, einmal gab es ein Kreuzmuster, und dann blieb wiederum alles gesprenkelt. In meiner Not sarm ich Böses. Damit wollte ich vor meinem Neffen bestehen, meine Autorität und seine Disziplin retten.

Der angesagte Wettbewerb fand wiederum in meinem Arbeitszimmer statt. Wir hatten vereinbart, mit dem Rücken zueinander zu arbeiten. Wer den Würfel zustande gebracht hätte, sollte sich umdrehen und ihn vor sich hin legen.

Der Wettbewerb begann, ich drehte mich um — und schlachtete meinen Würfel mit einem stumpfen Messer. In fieberhafter Eile baute ich ihn wieder so zusammen, daß alle sechs Seiten wie erforderlich monochrom glänzten. Es klemmte zwar scheußlich, aber schließlich klappte es. Schweißtropfen flogen von meiner Stirn, so schnell drehte ich mich um: ich blickte in das nachsichtig lächelnde Gesicht eines zehnjährigen Naseweises.

Vor Erich-Thomas lagen fein-säuberüch fünf Würfel - alle mit der richtigen Farbe auf der richtigen Fläche. „Wenn man den Würfel rücht auseinander nimmt," wurde ich belehrt, und mein Gesicht tauchte sich in revolutionäres Rot, „geht es halt viel schneller!"

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