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Die Legende von Baum und Gärtner

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Ein Gärtner, der nicht mitansehen konnte, wie gleich neben seiner Gärtnerei mit den sauberen Beeten und in Reih und Glied stehenden Bäumchen seiner Baumschule, im wild wachsenden Waldstück daneben die jüngeren Bäumchen vom Unterholz und den größeren Bäumen verdrängtbwurden und in deren Schatten kümmerlich wuchsen, erwarb das Waldstück, rodete es und beschloß, auch dort eine Baumschule anzulegen. Eines schönen Morgens setzte er eine Anzahl junger Bäume, alle gleich groß, in gleichem Abstand voneinander, so daß jedes genug Raum um sich hatte und genug Erde zum Ausbreiten seiner Wurzeln. Dann begoß und düngte er sie und achtete darauf, daß jedes genau gleichviel erhielt, denn er hatte ein besonders empfindliches Gerechtigkeitsgefühl.

Die Sonne, die bekanntlich auf Gerechte und Ungerechte scheint, tat das Ihre dazu, und der Regen begoß die Anpflanzung gleichmäßiger, als man es mit der Gießkanne gekonnt hätte. Und die Bäume begannen zu wachsen. Als der Gärtner aber nach einiger Zeit seine Neupflanzung betrachtete, mußte er feststellen, daß trotz Anwendung größter Gerechtigkeit nicht alles gleichmäßig gewachsen war. Schon wieder zeigten einige Bäume die Neigung, die anderen zu überragen.

„Was seid ihr für überhebliche Karrieristen!“ sagte der Gärtner zu den größeren Bäumen. „Wenn ihr nicht Rücksicht nehmen wollt auf die anderen, werde ich euch umschlagen!“

„Du tust uns Unrecht“, sagten die großen Bäume. „Hast du uns nicht eingesetzt und gedüngt, damit wir ordentlich wachsen? Wir haben unser Bestes getan, dir deine Mühe zu danken.“

Das leuchtete dem Gärtner ein, und nachdem er eine Weüe darüber nachgedacht hatte, wieviel ihm das Holz der großen Bäume einbringen würde, richtete sich sein Zorn gegen die kleineren Bäume, und er sprach zu ihnen:

„Ihr faulen und nichtsnutzigen Bäume, ich werde euch ausgraben und verbrennen. Habt ihr nicht gleichen Boden und gleiche Nahrung erhalten wie jene Großen, und ihr wollt doch nicht das Gleiche leisten?“

„Du tust uns Unrecht“, erwiderten die kleinen Bäume. „Wir wachsen so rasch wir können, aber schon bald waren uns diese Großen voraus und hielten die Sonne von uns ab, die uns Kraft gibt zum Wachsen. Willst du uns dafür bestrafen, daß wir weniger Glück und weniger Kraft haben?“

Während der Gärtner noch dastand und nicht wußte, wie er es allen recht machen sollte, wurde es Abend, und er legte sich neben einen großen Baum und schlief ein. Da redeten die Bäume in der Baumsprache miteinander, die er ohnehin nicht verstand.

„Karrieristen hat er uns genannt“, sagten die Großen, „dabei tun wir doch nur, was uns angeboren und natürlich ist. Wir wachsen, denn das Wachsen ist unsere Bestimmung und zu wachsen ist schön.“

„Er will uns ausreißen und verbrennen“, sagten die Kleinen. „Ist er nicht tausendmal schlimmer als die größeren Bäume?“

Da taten sich die kleinen und die großen Bäume zusammen und beschlossen, den Gärtner zu töten. Der Baum, unter dem er sich zur Ruhe gelegt hatte, war bereit, sich zu opfern, er zog seine Wurzeln aus der Erde, und stürzend erschlug er den Gärtner.

Dann wuchsen sie ungestört weiter, jeder so gut er konnte. Nach ein paar Jahren stand da wieder ein wilder Wald mit dichtem Unterholz, mit großen und kleinen, mächtigen und kümmerlichen Stämmen, mit Sonne und Regen und Unkraut. Aber: Schon hör ich von Ferne die Schritte eines neuen Gärtners herankommen.

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