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Die Welt mit dem Kainsmal auf der Stirn

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Den Tag, den Christen weltweit als Geburtstag des Welterlösers feiern, den Tag, an dem der „neue Adam" in der Krippe angebetet wird, erleben weltweit Abermillionen in Haß, Elend, Verfolgung, Hunger und bitterster Not. Das Kainsmal auf der Welt des Jahres 1992 ist sichtbarer denn je. Ist der Brudermörder Symbol des Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert?

Keine angenehmen Weihnachtsgedanken zu Beginn meiner letzten Glosse in diesem Jahr! Ich höre schon die Kritiker: warum kein Hoffnungsstrahl am Dach der wimmernden Welt?

Aber was kann man von dieser haßgeprägten Welt anderes sagen, in der selbst Hoffnung nur mit Panzern und Maschinenpistolen gegeben werden kann?

Das US-Nachrichtenmagazin „Newsweek"

hat denn auch folgerichtig das zu Ende gehende Jahr zum „Jahr des Brudermords" erklärt und unter das Motto „Hasse deinen Nachbarn" gestellt.

Bisher konnten wir Europäer wenigstens noch darauf verweisen, von all den Stammes-, sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Konflikten verschont geblieben zu sein. Heute scheint der Alte Kontinent auf der Liste häßlichster Ereignisse gleich mehrmals auf: Nicht nur Somalia oder Indien müssen hier genannt-werden, „Newsweek" stellt in diese Reihe neben Bosnien und Serbien auch Deutschland.

Der Globus ist mit Brandherden übersät. Es schmerzt, daß auch das Herz Europas davon nicht verschont blieb. Es helfen auch keine Rationalisierungen, man kann nicht die Verletzungen der Menschenwürde und -rechte in Afrika besonders hoch und in Deutschland nicht ganz so hoch anrechnen.

Überall wird Bruder Mensch geschändet. In

Kambodscha genauso wie in einem serbischen Lager, in der Osttürkei nicht mehr als in Somalia, in Südafrika so wie in Deutschland, in Indien wie im Kaukasus.

Der Stern von Bethlehem wurde vom Feuerschein brennender Häuser, in denen Kinder verkohlen, vom letzten vergeblichen Aufblitzen im Auge eines am Boden verhungernden Kindes in Mogadischu, vom erkalteten Blick vergewaltigter Kinder in Bosnien abgelöst.

Vielleicht lassen sich das Reden um Sicherheitszonen in Bosnien, die Versuche, zu einem kollektiven System der Sicherheit in Europa zu kommen, die Appelle an die Verantwortung der Weltmacht USA -zuletzt von Alois Mock in New York - doch als leises Weihnachtsglockengeläut interpretieren, das - wenn auch nicht mehr in diesem Jahrhundert - doch Hoffnung auf einen neuen Menschen für das nächste halbe Jahrhundert einläutet.

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