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Lew Kopelew: Ein Vertreter des anderen Rußland

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Lew Kopelew (70), aus seiner Heimat Sowjetunion ausgebürgerter Literat und 1980 Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, war vergangene Woche auf einer Vortragsreise zu Gast in Wien und Graz. Ein Porträt.

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Lew Kopelew (70), aus seiner Heimat Sowjetunion ausgebürgerter Literat und 1980 Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, war vergangene Woche auf einer Vortragsreise zu Gast in Wien und Graz. Ein Porträt.

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Irgendwie ist er die leibhaftige Inkarnation des gutmütigen, liebenswerten, weisen russischen Veterans, den jedes Kind gerne zum Großvater haben würde. Dazu paßt sein wallender weißer Bart, sein überlegtes Verhalten, seine wohlklingende Baßstimme.

Er wirkt auf erwachsene Menschen nicht minder sympathisch und nicht nur wegen seiner äußeren Erscheinung: seine Weltgewandtheit, seine gewählte Sprache, seine Intelligenz, gepaart mit einem kräftigen Schuß Humor und Ironie, ziehen seine Zuhörer unvermeidlich in den Bann: Lew Kopelew (70), aus seiner Heimat Sowjetunion ausgebürgerter Literat und 1980 Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, war vergangene Woche auf einer Vortragsreise zu Gast in Wien und Graz.

Freilich, das Bild vom russischen Großvater paßt nicht ganz, denn Kopelew ist, gebürtiger Ukrainer jüdischer Herkunft. Umso mehr verkörpert er das „andere" Rußland — jenes Rußland, das gegen die Unterdrük-kung aufbegehrt, das für die Menschenwürde kämpft, dem Freiheit ein heiliges Gut ist. Und er erhebt entschieden dagegen Einspruch, wenn seine Heimat taxfrei zur traditionellen asiatischen Despotie erklärt wird, der demokratische Tradition fremd seien.

Kopelew präsentierte bei einem Vortrag des „Forums Schwarzenbergplatz" der Industriellenvereinigung Gegenbeispiele zu diesem weitverbreiteten Vorurteil: die Stadtrepubliken (zum Beispiel Nowgorod), die Kosakenrepubliken am Don, aber auch die Dorfgemeinden, in denen selbst die Leibeigenen liberales Denken entwickelt hätten.

Und heute? Auch heute gebe es sie noch, die Hüter der wahren demokratischen Traditionen Rußlands, nämlich die Bürgerrechtskämpfer, allen voran Andrej Sacharow. Und das, obwohl der sowjetische Geheimdienst KGB immer stärker werde, immer mehr Spitzel einsetzen würde.

Die Zahl der Bürgerrechtler, die in den Gefängnissen schmachten, schätzt Kopelew auf bis zu 10.000. Viel, viel größer sei freilich die Zahl der freiheitsliebenden Menschen in deren Umfeld, die sich in immer wieder neu entstehenden nationalen und religiösen Bewegungen engagieren beziehungsweise mit ihnen sympathisieren würden.

Hauptanliegen dieser teilweise bereits zu Massenbewegungen angeschwollenen Gruppen: die Aufrechterhaltung der Kultur, der Moral, der Religion. „Das sind keine Untergrundbewegungen mit politischen Zielen. Zu dem wollen sie nur die Machthaber stempeln — und im Westen wird das fälschlicherweise auch so dargestellt", so Kopelew bei einer Pressekonferenz. Und schließlich sieht Kopelew noch die Massen der gewöhnlichen Alltagshelden, die nicht auf die Straße gehen, um öffentlich zu protestieren, sondern bis zu 18 Stunden am Tag darauf hinarbeiten, daß das Leben in der Sowjetunion so recht und schlecht weitergeht: „Diese Menschen sind auch Demokraten, Vertreter der Menschenwürde. Und sie lassen darauf hoffen, daß sich in Rußland auf andere Weise als auf blutige Revolutionen doch noch eine wahre Demokratie durchsetzt."

Dabei geben ihm vor allem die Ereignisse in Polen vor dem 13. Dezember 1981 Zuversicht: „Das polnische Wunder hat gezeigt, welche Möglichkeiten des Widerstandes gegen totalitäre Macht es geben kann." Und weiter: „In Polen entscheidet sich das Schicksal Europas und der Welt!" Denn Kopelew ist überzeugt: „Entweder wird der Osten demokratisch oder wehe der ganzen Welt."

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