zapfen

Die Fichte. Die offene Türe. Die Stimme. Das Weinen.

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Über Erinnerungen, die Sehnsucht nach der heilen Welt und Momente der Versöhnung mit ihr.

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Über Erinnerungen, die Sehnsucht nach der heilen Welt und Momente der Versöhnung mit ihr.

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Der Heilige Abend ist für mich mit einer Erinnerung verbunden. Mit einem Bild, das sich eingeprägt hat. Die Familie versammelt sich um den Christbaum. Der Baum ist eine Fichte, geschmückt mit Strohsternen, zehn, zwölf roten Kugeln, schlichten weißen Kerzen, einigen Anhängern, die irgendjemand irgendwann im Kindergarten oder in der Schule gebastelt hat.

Meine Oma sitzt auf der Bank vor dem Kachelofen. In der Stube ist es unangenehm warm. Meine Mutter lässt die Tür zum unbeheizten Gang offen. Das Lied „Stille Nacht“. Meine Schwester spielt Blockflöte. Alle anderen singen. Am schönsten singt meine Oma. Und sie weint.

Die Fichte, die Blockflöte, das Lied „Stille Nacht“, die weinende Oma mit ihrer roten Bluse und der goldenen Kette auf der Kachelofenbank. Das sehe ich, wenn ich über Weihnachten nachdenke.

Meine Oma ist seit elf Jahren tot. Nun weine ich. Es sind nur ein paar Tränen, die mir herunterlaufen. Etwa wenn ich morgens im Bad einen dieser amerikanischen christmas songs höre. Dann bin ich wieder 14 Jahre alt. Ich bin ein Mädchen, das nicht weiß, wohin mit sich. Ich habe Angst, ich habe Träume. Ich will zu den Sternen greifen, wohlwissend, dass ich stattdessen entsprechen soll.

Schon als Kind spürte ich, dass meine Oma am Heiligen Abend ihren Träumen nachgeweint hat. Wie konkret diese waren, weiß ich nicht. Ich kenne nur Details. Ich stelle mir immer vor, sie hätte gerne eine heile Welt gehabt. Stattdessen durchlebte sie den Krieg, musste zwei ihrer Kinder begraben, erlitt Demütigungen, Verrat, den Verlust ihrer großen Liebe. Auch schmerzten sie die Zwistigkeiten in der Familie. Am Heiligen Abend erlaubte sie sich, sich ihren Gefühlen hinzugeben.

Eine Frau, von der die Leute sagen, sie sei stark, lebenstüchtig, nüchtern, kontrolliert gewesen. Sie entsprach eben, musste entsprechen. Im Gegensatz zu mir hatte sie keine Wahl gehabt.

Die Familie, die sich um den Christbaum versammelt. Das Ertönen der Blockflöte. Das gemeinsame Singen von „Stille Nacht“. Die Fichte aus dem eigenen Wald. Die überhitzte Stube. In diesem Moment war meine Oma mit der Welt versöhnt.

Lesen Sie auch die Quint-Essenz "Glanz und Gegenwehr" oder "Wenn Brüche heilen".

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