7022868-1988_51_18.jpg
Digital In Arbeit

Damals, im Jahr 1918

Werbung
Werbung
Werbung

Als der unselige Erste Weltkrieg ausbrach, war ich elf Jahre alt. Immer mehr sehnte man sich nach dem Ende des Völkermordens. Zuletzt lautete die Bilanz: zehn Millionen Gefallene, zwanzig Millionen Verwundete, allein in Österreich-Ungarn 1,200.000 Tote und 3,600.000 Verwundete.

Der alte Kaiser war 1916 gestorben, sein Begräbnis war die letzte Demonstration einer mitteleuropäischen Großmacht. Im selben Jahr wurde Ministerpräsident Graf Stürgkh vom Sohn des großen Viktor Adler hinterrücks erschossen. Zur selben Zeit starb mein Großvater August Rauscher, k. k. Vizepräsident der Polizei. Wir alle gönnten ihm, daß er den Zusammenbruch seines geliebten Reiches, dem er sein Leben gewidmet hatte, nicht mehr erleben mußte.

Der 12. November 1918 brachte die Ausrufung der Republik. Ich erlebte dieses Ereignis mit fünfzehn Jahren. Das damalige Geschehen hat sich derart in mein Gedächtnis eingegraben, daß ich das Folgende nach bestem Wissen als selbst Erlebtes schildern kann: Ich sah, wie man die kaiserlichen Adler abmontierte. Ich erlebte, wie man heimkehrenden Offizieren und Unteroffizieren, die jahrelang ihre Heimat verteidigt hatten, die Distinktionen — ja sogar die Tapferkeitsmedaillen — auf offener Straße herunterriß. Die Bevölkerung war kriegsmüde geworden: Die Angst und Ungewißheit um das Schicksal der Männer, Väter und Söhne, der Hunger und die Kälte, der Mangel an allem, was das Leben erträglich macht, taten ihre Wirkung.

Bevor ich die ersten sogenannten Friedens-Weihnachten beschreibe, muß ich zum Verständnis die damalige Situation schildem. Am 20. Dezember zum Beispiel wurde verlautbart: „In der am 26. Dezember beginnenden Abgabe-Woche beträgt die Rindfleisch-Ration zwanzig Dekagramm in der Woche. Die Hälfte hievon kann mit Rücksicht auf das Weihnachtsfest schon am 24. Dezember bezogen werden.“

Mein Vater als Polizei-Regierungsrat und Leiter eines Kommissariats verbot der Familie strikte, irgend etwas im Schleichhandel, der bereits sehr blühte, zu kaufen, da er selbst die Schleichhändler bestrafen mußte. Andererseits wußte meine Mutter nicht, wie sie neun Personen ernähren sollte. Ich glaube, es war das erste Mal in ihrer Ehe, daß sie einer Bitte ihres Mannes nicht nachkam. Meine Mutter beauftragte mich, ihre Boutons in falsche umzuwandeln — mein Vater sollte natürlich nichts davon bemerken — und für die Differenz die nötigsten Lebensmittel zu besorgen.

Der Bedarf der Stadt Wien belief sich auf 600 Waggons Kohle pro Tag. Täglich stand in der Zeitung, wieviel Kohle tatsächlich angeliefert worden war. Meistens war es zu wenig und zudem für die Gaswerke unbrauchbare Braunkohle.

Die Gastwirte und Kaffeesieder sagten zu, am Heiligen Abend bereits um sieben Uhr statt um neun Uhr abends zuzusperren, und wollten dafür an den beiden Feiertagen bis Mitternacht offenhalten. Antwort der Behörde: Eine Entscheidung kann erst getroffen werden, wenn man über die Kohlezufuhr ein genaues Bild gewonnen hat.

Ein Ansu-—- chen, die Straßenbahn, die normalerweise bis acht Uhr abends fuhr, an den Feiertagen und vor allem zu Silvester länger fahren zu lassen, wurde als unmöglich abgelehnt.

Am 20. Dezember wurde den Theatern, Konzertsälen, der Urania, den Varietes und Kinos vom Stadtrat ausnahmsweise gestattet, am 22. des Monats und an den beiden Feiertagen Vorstellungen abzuhalten. Allerdings mußten die Direktoren sich folgenden Bedingungen unterwerfen: Spielzeit nicht über zweieinhalb Stunden, Reduzierung des Stromverbrauches um die Hälfte, Verzicht auf* jede Effektbeleuchtung.

Daß sich alle diese Einschränkungen auch auf jeden Haushalt . — auch auf den unseren — auswirken mußten, ist selbstverständlich. Die Adventzeit wurde von uns allen auch dazu verwendet, die sehr mühselige Beschaffung auch nur kärglicher Gaben zu bewerkstelligen. Die Damen des Hauses und unsere Haushaltshilfen bemühten sich redlich, aus alten Sachen „neue Kleider“ zu fabrizieren. Da mußte das Spitzentuch der Großmutter herhalten, das Mittelstück einer Klavierdek-ke fand Verwendung, ja selbst der Tüll des Stubenwagens des Jüngsten und sogar Leintücher verwandelten sich in Sommerkleider. So nähten und strickten die weiblichen Familienmitglieder ununterbrochen und unverdrossen, wobei die benötigte Wolle aus aufgetrennten alten Sachen gewonnen wurde.

Damals las ich in einer Zeitung, daß am 24. Dezember zu Mittag manche Gäste zwei Portionen Mehlspeise gegessen hätten, obgleich das natürlich verboten war. Ich erkundigte mich bei meinem Vater, ob das mit dem Verbot wirklich stimme. Er bejahte es. Allerdings fügte er hinzu, „leider werde momentan allzuviel verboten“, sodaß eine Kontrolle praktisch unmöglich sei.

Apropos Polizei: Es war noch ein Glück, daß die neue Regierung Deutsch-Österreichs die Polizei als Ganzes übernahm, ja der letzte Kaiserliche Polizeipräsident Johannes Schober nunmehr Leiter des gesamten Sicherheitswesens war. Auch die Siegermächte begrüßten die Übernahme der Polizei, in welcher sie ein Bollwerk gegen die kommunistischen Räteregierungen in Bayern und auch in Ungarn sahen.

Doch zurück zu den Problemen der privaten Weihnachtsvorbereitungen. Mich traf die ehrenvolle Aufgabe, irgendwo einen Christbaum aufzutreiben, was gar nicht so einfach war. Ich ging zum Christkindlmarkt Am Hof und kam gerade zurecht, wie zwei Männer sich um einen Baum prügelten, was der Idee des Weihnachtsfriedens wirklich nicht entsprach.

Noch ein kleines Detail als Weihnachtsgeschichte:

Unser Flickschuster Quecke hatte meinen Vater verstimmt, da er ihm auf seine Klage wegen Geldmangels geantwortet hatte: „Ja, Herr Regierungsrat, hätten S* halt was Ordentliches g'lernt.“ Ich ging am nächsten Tag zu ihm und machte dem Herrn Quecke Vorwürfe. Dieser bereute seine Bemerkung und bot eine Wiedergutmachung an. Die Stiefeletten meines Vaters seien schon sehr schäbig; ich solle sie heimlich bringen, und er würde sie als Weihnachtsgeschenk auf Glanz herrichten.

Ein schwerer Schatten lag über der Weihnachtsstimmung in unserer Familie—wie in vielen anderen auch. Von meinem Bruder, der mit siebzehn Jahren an die Piave-Front beordert worden war, wußten wir nichts. War er gefallen, verwundet oder in Gefangenschaft geraten? Zu unserer unsagbaren Freude traf er ein paar Tage vor Weihnachten wohlbehalten ein.

Am Heiligen Abend selbst wurde mit ersparter Kohle der Salon geheizt. Das von mir ergatterte Bäumchen wurde mit dem traditionellen Schmuck verschönt und mit ein paar bereits gebrauchten Kerzen geschmückt. Meine Großmutter als Doyenne der Familie las mit festlicher Stimme das Weihnachtsevangelium und begann mit uns für unseren verstorbenen Großvater ein Vaterunser zu beten. Dann spielte mein älterer Bruder Weihnachtslieder am Klavier. Dann gingen wir daran, die Geschenke zu bewundern. Alle hatten mit viel Liebe und Mühe versucht, zu zeigen, daß sie getan haben, was nur irgendwie möglich war — unsere Hausmädchen natürlich voll eingeschlossen.

Zum Abschluß des Festes wurden noch einige Klavierstücke gespielt und dann ging, wer in der Lage war, zur Mette. Auch dort mußte gespart werden, alles war in Halbdunkel gehüllt, aber mit entsprechenden Worten und Orgelklängen fand der Heilige Abend seinen schönen Abschluß.

Ich hoffe, daß Weihnachten 1988 trotz des materiellen Uberflusses des Angebotenen annähernd so innig gefeiert wird wie damals das armselige Weihnachtsfest 1918. •

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung