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Kindheit, weißer Zauber

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Seit vielen Jahren ist es mir zu einem Gewohnheitsritual geworden, an jedem Heiligen Abend-Vormittag die für die Mette schon weihnachtlich geschmückten Kirchen in der Stadt abzugehen, um die in den Vortagen aufgestellten Krippen wieder zu sehen, die ich mir als Kind mit der Großmutter die Tage um Weihnachten immer anschauen gegangen bin.

Besonders oft und besonders gern bin ich mit der Großmutter in den letzten Tagen und Stunden

vor dem Heiligen Abend in die Klosterkirche gegangen, die Krippe dort im linken Seitenschiff, mit einem roten Samtvorhang zu beiden Seiten noch halb zugezogen, ist immer der mich vielleicht am meisten faszinierende Vorweihnachtsaugenblick gewesen, dem Jahr um Jahr mit dem Warten auf den ersten Schnee so viel Erwartungsfreude und Erwartungsungeduld vorausgegangen waren.

Unter einem großen Glassturz ist der ganze Heilige Abend da, von einem Berg, auf dessen oberster Höhe mit Papiermachetürmen und -häusern die Stadt Bethlehem aufgebaut ist, ziehen die Hirten mit ihren Gaben zur Krippe am Fuß des Berges hinunter, kindliche Gestalten mit kindlichen Gesichtern, die dich erst heute um so viele Jahre später an den bethlehemitischen Kindermord ebenso wie an die Kinderkreuzzü-ge des Mittelalters gemahnen könnten. Zu ihnen wird sich aber, gleich was wirklich geschehen ist, eine Woche später der schwarze Mohr hinzugesellen, den du mit derselben Bewunderung jedes Jahr in der Kindheit wie ein exotisches Wunder belächelt hast.

Dort mit der Großmutter davor zu stehen: die Freude war größer als die Freude unter dem Christbaum, größer als das Weihnachtsglück um all diese Tage, denen lange vor dem Augenblick dieser Bewunderung ein tagelang mit Bangigkeit und Es-nicht-erwar-ten-Können an die Großmutter gerichtetes Fragen vorausgegangen ist, ob wir nicht schon schauen sollten, ob schon die Krippe in der Klosterkirche wieder aufgestellt sei. Aber schon viele Tage vorher, bevor wir dann vor der Glaskastenkrippe im linken Seitenschiff gestanden sind, hat die Großmutter die Vorweihnachtszeit und Vorweihnachtsfreude mit mir zu

teilen begonnen, als sie mich zu sich auf den Krautberg hat kommen lassen.

Wie gut ist mir in Erinnerung, wie die Großmutter Wochen vor Weihnachten immer schon die Schokolade für den Christbaum im gegenüberliegenden Spar-Ge-schäft eingekauft hat und die Schokoladefiguren, nachdem sie mich dabei in heimliches Vertrauen gezogen hatte, in einer großen weißen Schachtel im Badezimmer unter der Wanne versteckt hat, bis plötzlich eines Morgens, ohne daß ich es hätte wahrnehmen können, die ganze Schokolade aus der weißen Schachtel verschwunden war und zu meiner Überraschung dann am Weihnachtsmorgen auf dem kleinen Christbaum im Wohnzimmer der Großeltern hing.

Und in derselben Zeit, immer ein paar Wochen vor Weihnachten, der ganz schönsten Zeit in der Kindheit, hat mich die Großmutter an einem Morgen einmal mit großen und noch warmen Lebkuchen überrascht; halb verschlafen und mit noch träumenden Augen folge ich dem süßen Gewürzgeruch in die warme Küche, und sitze, während ich mir noch den Schlaf aus den Augen reibe, in einem blauen Pyjama wie ein Ungläubiger auf dem Schoß der Großmutter, die mein Erstauntsein belächelt. Die ganze Küche und auch das Badezimmer sind mit den wunderbar verzierten Lebkuchenstücken ausgelegt; so viel hab ich noch nie gesehen, so daß mir einen Moment vorkommt, als ob ich noch träumte, besonders als dann nach einer Weile die Großmutter auf meinen noch immer verwunderten Blick, der zwischen ihrem Lächeln und den vielen Lebkuchen hin und her wandert, „Das sind die Heinzelmännchen gewesen" sagt.

Ein wenig ungläubig schaue ich sie an, weil ich doch weiß, daß die Großmutter, die immer, wenn ich noch tief geschlafen habe, sehr früh aufgestanden und in die Küche einheizen gegangen ist, sehr früh am Morgen selbst die Lebkuchen gebacken hat — warum sonst sind sie noch warm und riecht die ganze Küche danach? Ja, ungläubig schaue ich sie an, aber doch auch ein wenig schon mit der schönen Vorstellung: Wie die

Großmutter am Morgen in die Küche gekommen ist, seien die Heinzelmännchen gerade fertig geworden — schließlich ist auch gerade die alte Frau Tischberger für einen Sprung auf Besuch gekommen und hat mit einem mir alles noch ungewisser und rätselhafter werden lassendem Nicken dasselbe gesagt, so groß hab ich sie angeschaut.

Und einmal, aber das war schon abends und viele Jahre nach den Jahren der tiefsten Kindheit, hat die Großmutter einen alten Kinderwunsch wahrgemacht und im Rohr ein ganzes Haus aus Lebkuchen gebacken, mit dem mir das Hansel- und Gretel-Knusperhäus-chen der frühesten Kindheit — die Zeit des Märchenerzählens — für einen Augenblick wieder zu-

rückgekommen ist: wie oft habe, ich als Kind am Krautberg übernachtet und im Bett der Großeltern geschlafen, wie oft hat mir dabei die Großmutter vor dem Einschlafen Märchen erzählt!

In einer Märchenwelt hat sie uns Kinder gerne leben lassen, auch wenn die Mutter dann manchmal, wenn die Großmutter vom Christkind auch noch später gesprochen hat, ernüchternd dreingefahren ist: Geh sag das doch nicht! Aber die Vorstellung vom Christkind hat, als es das Christkind lange schon nicht mehr gegeben hat, dennoch, solange die Kindheit gedauert hat, überlebt — wie freudlos wäre mir Weihnachten ohne sie gewesen. Und so hat sich auch noch viele Weihnachten danach eine gewisse

Heimlichkeit erhalten: nie habe ich, auch in den späteren Jahren, beim Christbaumaufputzen dabei sein wollen, viel lieber vor der angelehnten Schlafzimmertür sitzen und den geheimnisvollen Lichtspalt beobachten, wie sehr mir auch bewußt war, was dahinter wirklich geschah.

Am späten Nachmittag des Heiligen Abends haben wir uns dann immer auf den Weg gemacht, in die Stadt hinunterzugehen, der Großvater, die Großmutter und Urgroßmutter, Jahr auf Jahr um dieselbe Zeit.

Wie selten sind später noch so schneereiche Weihnachten gewesen wie in der Kindheit, in der wir an manchem Heiligen-Abend-Nachmittag mit dem Schlitten in die Stadt hinuntergefahren sind. Wie sehr hat es in einer Nacht zum Vierundzwanzigsten einmal so viel geschneit, daß bis in den späten Vormittag die Schneeschaufeln zu hören gewesen sind.

In der Stadt unten war noch die letzte Weihnachtsgeschäftigkeit zu verspüren, in der heute schon längst zugesperrten Buchhandlung Q., in der früher die Mutter gearbeitet hat und in der der Bruder und ich an jedem sechsten Dezember dem Nikolaus unsere frühesten Weihnachtswünsche für sein goldenes Buch gesagt haben, haben wir meistens kurze Zwischenstation gemacht, dort hat auch der Vater in den späteren Jahren noch im Hof hinten den vom gegenüberliegenden Christbaumgeschäft gekauften Christbaum bis zum Dreiundzwanzigsten eingestellt gehabt.

In der Wohnung dann zu Hause — wie sehr waren Vorfreude und Erfüllung jetzt einander nahegekommen — ist uns schon Kerzen-und Weihrauchgeruch entgegengeflogen (immer war der Vater die Wohnung vor uns ausräuchern gegangen), der Weihnachtstisch war schon gedeckt, und der Lichtspalt bei der Schlaf zimmer-tür verhieß mir, daß es bis zur Bescherung nicht mehr lange dauern müsse; während wir alle im Wohnzimmer warteten und uns die Mutter mit der Weihnachtsglocke ins zum Christbaum- und Weihnachtszimmer gewordene Schlafzimmer bald hineinläuten würde.

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