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ich suche etwas

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ich habe anfangs nicht richtig deutlich gesehen, ich habe die Wirklichkeit verneint, wenn etwas geschehen ist, das ich nicht zu ertragen vermeinte, wurde ich von fieber befallen, ich war in einer hatschi-brat-schi-luftballon-welt zu hause.

das krankenhaus ist wie eine festung gebaut gewesen, es ist auf einem hügel gestanden wie eine spielzeugburg. ich habe dort mit meinem kaspar gewohnt und meiner spazierpuppe, ich habe das krankenhaus wegen rotfieber aufsuchen müssen, der kaspar liegt heute verschmutzt hinter den braunen vorhängen meines untermietzimmers, das ebenfalls schmutznecken an den Wänden hat, aber täglich hoffe ich, daß bald ausgemalt werden wird und alles klar sein wird.

ich habe aus dem kleinen fenster der nationalsozialistischen kranken-hausfestung herausgesehen und auf meine schöne mutter gewartet, daß sie mich einmal während meines wochenlangen aufenthaltes besuchen werde und mir einige zitronen für saure limonade bringen würde, da meine großmutter nicht daran dachte, mir zitronen zu bringen, meine mutter stand unterhalb der nationalen festung und winkte, und die zitronen, die mir dann gereicht werden sollten, glänzten hell in ihren händen.

schließlich war ich so allein in der isolierstation, daß ich begonnen habe, mit einer kleinen nagelschere meinen kopfpolster zu zerschneiden, so daß ich mich bald darauf im schönsten schneeflockenwald befand, heute noch bekomme ich prügel wegen dieser tat, von jenen, die vorgeben, mich zu pflegen und mich in der Umgebung zu installieren, noch bin ich nicht vollkommen eingereiht, meine großmutter hat zu dieser zeit gern braune gestreifte kleider getragen, meine mutter hat aber behauptet, mir wiederholt versichert, daß ich kein nationalsozialistisches kind bin. ich bin glücklich, daß das so ist.

„il faut etre toujours joli, c'est l'ordre de brambambuli“, schrieb mein vater in einem seiner briefe von der front aus rußland. „ihr vater, der sich allerdings nie die mühe gemacht hat, sich um sie zu kümmern, war ein sehr ehrenhafter mann...“ andächtig betrachte ich die paar orden auf seiner oberstbrust. überall, sogar unter den vergoldeten silberleuchtern stehen bilder meines vaters als hoher militär. überhaupt, sagt die frau, war die familie ihres vaters eine ziemlich ehrenhafte familie, und ihr vater war besonders zuvorkommend zu f rauen... „er war

„ich habe gehofft“, schrieb der Schwager meines damals eben verstorbenen vaters, „daß er uns mehr geld hinterlassen würde... ich weiß nicht, warum diese summe in meinen Vorstellungen ins fantastische gewachsen ist...“

meine liebe mutter, warum hast du dir ein haus gekauft, das schief ist, und wie ein kartenhaus jeden augenblick zusammenfallen kann? aus dessen mauern und böden die feuchtigkeit dringt? wo man in jedem Stockwerk einer ratte begegnet und einem Ungeziefer? ein haus, in dem man es keine minute aushält?

und warum begraben wir unsere tote großmutter in einem friedhof aus lauter steinen in einer mauer, auf einem Straßenfriedhof, ohne erde, einfach einzementiert, und ohne namensschild, so daß sie niemand mehr finden kann, ihre existenz einfach ausgelöscht ist, als ob sie nie gewesen wäre?

ich suche nämlich etwas.

ich weiß es jetzt ganz genau, großmutter saß im dunklen und starrte vor sich hin und ich übersprang fünf treppen im erleuchteten vorhaus, oder flog mit augespanntem schirm den eisschrank herunter und großmutter sagte: „na warte nur, du wirst schon noch sehen, weil wir ja doch nicht von da weg können“, und ich ging leise weg von ihr, aus traurig-keit und beschämung.

in den fiebergründen einer kind-heit, wo eine alte frau am bettrand saß und eine kleine geborgene weit

schuf, hinter deren verschlossenen fenstern das beängstigende nichts lauerte, fing ich an, nur noch meinen Vorstellungen zu leben.

ich, im garten der stiefgroßtante, das haus, die hühner, der nachbar-hund, die kieselsteine oder die Zeichnungen auf dem gartenwegpflaster. ich und der böse schlüsselbauer, die wiese mit den Schlüsselblumen und die Vertreibung der kinder von der schlüsselblumenwiese. die harte und vom zorn gerötete großmutter und die ewige einbrennsuppe. ich und meine blaugemalte puppenwiege mit der quälpuppe und der spazierpuppe und dem kaspar. der gang zur mühle durch den wald und einsame felder mit dem leiterwagen sowie das rot-käppchen oder hänsel und gretel suchen brotkrumen, um sich nicht zu verirren, die großmutter und das tannenzapfensammeln im walde, und so fort.

meine großmutter teilte die kleine weit vor mir in gut und böse ein. sie bestimmte sogar den inhalt des guten und des bösen, sie versperrte mir die sieht auf die dinge wie ein felsbrocken.

das ungeheuer, das ich im fieber sah, das einen sack nach dem anderen vom vorräteschrank herunternahm, war böse, und ich hatte angst, es könnte auf mich zugehen und mich verschlingen, obwohl ich sicher war, daß es nur die Vorräte wollte, jedoch, hinter dem rücken meiner großmutter versteckt, verschwanden die ungeheuer, und ich erblickte kri-stallbilder einer christbaum- und nähkörbchenwelt, die das fieber zusammengeschmolzen hatte, das fieber wich und neben dem bett glänzten milde kerzen, die ich fassen wollte, ich dachte, es sei winter, obwohl doch herbst war. ich dachte daran, mit dem großen bösen hund zu sprechen, der hinter der wiese in einem großen garten wohnte, wenn mich das fieber verließ, ich betete, daß der hund an den zäun komme, wenn ich ihn besuchte...

ein sehr höflicher mann ...“ und ich muß an die fotografien meiner mutter nach meiner geburt in der klinik denken, wo sie immer ganz verweint aussieht.

als mein vater gestorben war, trug seine Schwester gestreifte seide, wovon der meter 15 DM kostete, wie sie ihrer anderen Schwester mitteilte, sie konnte sich allerdings nicht entscheiden, ob die geblümte oder gestreifte seide tragen sollte, „und wirklich“, schrieb der Schwager meines damals eben verstorbenen vaters, „ist der grabstein ganz besonders schön ausgefallen ... in richtiger große und schönem schwedischen granit, und mit klarer deutlicher schrift.“

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