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Herzbeben, heiliger Abend

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Eine Geschichte über Weihnachten und das Trauern.

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Eine Geschichte über Weihnachten und das Trauern.

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Viele Weihnachtsabende, von der späteren Kindheit bis ins frühe Erwachsensein, verschattet ein Herzbeben, als gehörte dies zum Weihnachtsritual, einen Satz lang den Christbaum; sobald aus dem dann leeren Wäschekorb das letzte Geschenk herausgeholt worden und wem auch immer in die Hand gedrückt worden ist — unversehens ist die Großmutter, die soeben noch in enthusiastischen Übertreibungen diesen Heiligen Abend oder diesen Christbaum als den schönsten jemals erlebten bedankt hat, in Gesichtsausdruck und Haltung elegisch geworden, hat sich aufseufzend, meine Geschwister und ich blinzeln uns aufmunternd zu, dem Spiegelbild der Kerzen in den Fensterscheiben zugekehrt und sagt dann mit todernster Stimme: „Nächstes Jahr, ihr werdet sehen, zündet ihr mir draußen einen kleinen Baum an, da lieg ich schon in der kalten Grubn!“

Dieser Schatten, Schatten eines über uns rüttelnden Raubvogels, ist leicht zu verscheuchen, und die schwarze Wolke, aufgesaugt von Heiterkeit, für ein Jahr verflogen.

„Aber Omama“, antworten wir in einer von Jahr zu Jahr größeren und genaueren Mehrstimmigkeit, die den möglichen Tod sogleich überstimmt hat, „das kennen wir schon, dieser Unsinn kann uns nicht erschrecken, das sagst du an jedem Heiligen Abend, muß das sein?“ oder so ähnlich, Beschwichtigung, die vermutlich auf eine erste durch die Mutter zurückgeht und im zweiten Jahr der Weihnachtsvision von der kalten Grube vor allem uns Kinder beschwichtigend gelautet haben mag: „Aber ich bitte dich, das hast du auch letztes Jahr befürchtet, das kommt von der künstlichen Feierlichkeit, und in Wahrheit ist alles sehr gut und sogar noch besser, und so bleibt es, Amen!“ Denn dann lachen wir aufrichtig, erheitert von der gespielten Beschämung der falschen Prophetin und ihrem renitenten oder resignierenden Achselzucken, welches ihre Erleichterung verbergen soll, gleich ist auch sie wieder heiter, und dann wird der Christbaum gelöscht und zu Abend gegessen (ein einziges Mal in all den Jahren sieht sie uns so spät sie auf dem Friedhof besuchen, daß uns die ersten BisSen Weihnachtskuchen nicht schmek- ken, ein anderes Mal, immer von neuem macht der Christbaum sie lachen, täuscht sie unsere frohe Zuversicht, der „komische Verwachsene“ werde ihre Verdüste rung nicht aufkommen lassen, doch da geht ihr Kopfschütteln und Lachen über den „lächerlichen Fichtenzwerg“ in ihre Todesverkündigung über, einen Augenblick lang glaubwürdiger als die Jahre davor).

Aber alle Weihnachten bleibt ihr Totengedenken ihrer selbst so frisch und auch überraschend, daß die Erinnerung stets von neuem all die vorangegangen Allerseelen — Weihnachtsaugenblicke bedankt, gegen die Logik der Wahrscheinlichkeit von Weihnacht zu Weihnacht ein wenig mehr.

Und dann der Heilige Abend, an welchem vermutlich ein jeder genauso wie ich auf die kleine Verschattung des von Jahr zu Jahr bescheidener gewordenen Strahlens wartet, vergebens der ihren traurigen Seufzer und Satz wie ein uns schuldig gebliebenes Weihnachtsgedicht rpahnender Blick, in besonderer Vergnügtheit läßt sie sich Zeit und sich jene nicht nehmen, wann endlich darf ich, damit der Spuk noch rascher als sonst und vielleicht für die Jahre, die sie noch hat, auf immer vorbei sei, ganz erwachsen: „Aber geh! und wenn du das noch zehnmal sagst, werden wir es dir so wenig wie das Christkind glauben, nichts als leere Versprechungen alle Jahre wieder“?

In die Kerzen schauen wir und warten beklommen, daß sie uns mit der Beschwörung der kalten Grube von ihrem Tod befreit, mit einem zögernden: „Nächste Weihnachten könnten wir .. “, möchte ich sie bewegen, mir mit einem: „Nächstes Jahr, ihr werdet schon sehen, werde ich nicht mehr dabeisein!“ ins Wort zu fallen, sie aber tut nichts dergleichen.

Mit dem Schmelzen der Kerzen wächst die Bange um sie, wann endlich wird sie mit neuen Todesahnungen die Angst um sie aufatmen machen, warum sagt keiner von uns: „Magst du nicht endlich, wir können es kaum mehr erwarten, den ,Nächstes-Jahr, ihr-werdet-schon-sehen’-Weih- nachtsspruch von der kalten Krippe oder Grube aufsagen?“, möge sie endlich mein Unbehagen spüren und endlich an unserer Statt von ihrem Grab dieser Weihnacht gedenken, bloß: „Nächstes Jahr“ und sonst nichts brauchte sie zu sagen.

Ich schaue zur Mutter hinüber und fange einen besorgten Blick auf und ein fragendes Achselzuk- ken, nun ist es an der Mutter, von einem zu reden, der der Großmutter nahegestanden hat und dieses Jahr gestorben ist, wann endlich wird sie uns von ihrem Tod erlösen?

Sie bleibt, zu dem Urenkel gebückt und mit diesem lachend, in ihrem quälenden Schweigen, doch neue Hoffnung für sie, als der Vater in seiner von nichts wissenden Unbefangenheit über den Weihrauchgestank zu schimpfen beginnt und ungeduldig fragt, wann endlich die Kerzen gelöscht würden, er sei schon hungrig, nun muß sie doch seine ungehörige schlechte Laune mit der Androhung anderer Kerzen und anderen Weihrauchs bestrafen wollen, aber nichts geschieht — noch einmal schaue ich zur Mutter hinüber, sie weicht meinem Blick aus, Licht nach Licht brennt aus, und auf dem Plafond wächst ein dunkler Schatten, will sie nicht oder kann sie nicht uns zuliebe etwas zu ihrer Rettung sagen, wann diesen Abend haben wir mit einem zu wenig herzlichen Wort sie zu retten versäumt?

Die letzten Flammen beginnen zu wanken, das Licht wird aufgedreht, und so müssen wir, ein letztes Mal ein Weihnachtsessen mit ihr essend, ein halbes Jahr vor ihrem plötzlichen Tod wie in einem Traum um sie trauern.

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