Berlin - © Foto: iStock/suteishi

Nervals "Aurelia": Schlaf und Schauder

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Der Schriftsteller Gérard de Nerval gilt als Wegbereiter des Surrealismus. Sein Werk „Aurelia“ entführt den Leser in die Traumwelt, aus der es kein Erwachen gibt. Eine Relektüre.

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Der Schriftsteller Gérard de Nerval gilt als Wegbereiter des Surrealismus. Sein Werk „Aurelia“ entführt den Leser in die Traumwelt, aus der es kein Erwachen gibt. Eine Relektüre.

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Der Traum ist ein zweites Leben. Jene Pforten aus Elfenbein oder Horn, die uns von der unsichtbaren Welt trennen, habe ich nicht ohne Schaudern durchqueren können. Die ersten Augenblicke des Schlafs sind ein Bild des Todes. Lähmende Starre befällt unser Denken, und wir können den Augenblick nicht genau erfassen, in welchem das Ich in anderer Gestalt das Werk der Existenz fortsetzt.“

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Das Buch des französischen Schriftstellers Gérard de Nerval (1808–1855), „Aurelia oder Der Traum und das Leben“, breitet schon zu Beginn einen eigenen kosmologischen Schleier über den Leser aus. Jeder und jede, die sich de Nervals Schreiben hingibt, weiß, dass dieser Schleier keine Verengung des Blicks kreiert. Ganz im Gegenteil: Hinter den Toren des gedanklichen Nebels, der Traum und Wirklichkeit verschmelzen lässt, eröffnet sich eine dritte Dimension. Es ist die Welt der geheimsten Wünsche, der tiefsten Abgründe und der inneren Zerrissenheit – schlicht die Welt des Wahnsinns, der de Nerval in seinen späten Jahren verfiel. Und es ist ein Werk, das – posthum erschienen – zum Kultbuch der Surrealisten avancierte. Sein Schreiben beschäftigte Charles Baudelaire und Marcel Proust, aber auch André Breton, der in seinem ersten surrealistischen Manifest („Manifeste du Surréalisme“) Bezug auf Nerval nahm – der eigentlich Gérard Labrunie hieß.

Hinter den Toren des gedanklichen Nebels, der Traum und Wirklichkeit ineinander verschmelzen lässt, eröffnet sich eine dritte Dimension. Es ist die Welt der tiefsten Abgründe.

„Aurélia ou le rêve de la vie“ wurde 2016 von Ernst W. Junker im Rahmen der von Thomas Ballhausen herausgegebenen Reihe „Bibliothek der Nacht“ neu übersetzt und liegt nun wieder in deutscher Sprache vor. De Nerval, geboren in Paris, war einer der wichtigsten französisichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Doch zu Lebzeiten war ihm dieser Ruf missgönnt. Nach einem Medizinstudium, das er abbrach, schloss er sich dem Pariser Künstlermilieu an, wo er unter anderem mit Heinrich Heine und Victor Hugo bekannt wurde. Er verfasste Gedichte und Prosa und übersetzte Goethes „Faust“ in Französische. „Aurelie“ schrieb er, als er bereits an einem Nervenleiden litt, das ihn seit 1841 plagte und bis zu seinem Suizid 1855 nicht mehr losließ. De Nerval erhängt sich am Gitter eines Hauses. Zur selben Zeit wurde mit „Aurelia“ sein letztes Werk in zwei Teilstücken in der „Revue des Paris“ veröffentlicht. Der Schriftsteller trug seinem Arzt Emile Blanche an, sein Werk posthum zu veröffentlichen. Das Schreiben sollte für de Nerval zu Lebzeiten auch als Therapie wirken und dabei helfen, seine Wahnvorstellungen zu fassen.

Doch der Roman „Aurelia“ ist zweifelsfrei mehr als nur die Écriture automatique eines Wahnsinnigen. Diese später auch von den Surrealisten gerne verwendete Technik des „automatischen Schreibens“ erhebt die Authentizität des Einfalls zur obersten Prämisse. Dabei dürfen sowohl Sätze, Satzstücke und Wortketten als auch einzelne Wörter geschrieben werden. Alles ist erlaubt. Um mit dieser Écriture automatique jedoch Literatur hervorzubringen, braucht es ein feines Gespür für Sprache. De Nerval erzählt die Suche nach Aurelia, in der Experten die von de Nerval verehrte und 1842 verstorbene Schauspielerin Jenny Colon sehen, nicht etwa chronologisch. Die verlorene Geliebte definiert sich nur über ihre Abwesenheit, der Ich-Erzähler nur über seine heftigen Illusionen. Er begibt sich, wie schon zu Beginn des Buches angemerkt, auf eine Reise, die ihn erschaudern lässt. Eine Reise in die Traumwelt, die er selbst nicht mehr kontrollieren kann und in eine Zeitwahrnehmung über die er nicht mehr verfügt. „Der Protokollierende büßt, während er versucht, eine Folge aus Erkrankungen, Genesungen und Rückschlägen zu verkraften und aus der ihn umgebenden ‚Welt der Einbildungen‘ Sinn zu ziehen“, heißt es in Ballhausens Nachwort zur Neuauflage von „Aurelia“. Aber was bleibt in einer Welt, in der alles entgleitet?

Das europäische Jahrhundert

Angesichts der heutigen vielfältigen Krisen verwundert es, dass die Traumliteratur nicht mehr Beachtung findet. Zu de Nervals Lebzeiten ist die Französische Revolution noch nicht einmal hundert Jahre alt, die Demokratie noch jung. Das „Jahrhundert Europas“, wie das 19. Jahrhundert gerne genannt wird, ist eine Zeit der demokratischen Mitbestimmung, der Entstehung der Bürgerrechte und der politischen Teilhabe. Doch zum Ende des Jahrhunderts wurde das Kräftemessen der europäischen Mächte immer aggressiver. Sowohl der stärker werdende Nationalismus, als auch der grassierende Imperialismus führten zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Der Prozess des langen Wettrüstens, der später in zwei Weltkriegen enden sollte, begann.

De Nerval fand sich also gegen Ende seiner Lebenszeit in einer Lage der weltpolitischen Neuaufstellung der Mächte wieder. In dieser Zeit ein so introspektives, modernes und den Illusionen gewidmetes Buch wie „Aurelia“ zu verfassen, machte ihn zweifelsohne zum großen Vorbild der Surrealisten, die in einer nicht minder fordernden Zeit das nicht Aussprechbare in Sprache zu formen versuchten. Die Geschichte verdichtet sich zu einer Vorsehung, etwa, wenn de Nerval folgendes schreibt: „Eine monderhellte Landschaft lag vor mir beim Blick durch das Türgatter, und die Gestalt der Baumstämme und Felsen kam mir bekannt vor. Dort hatte ich schon in einer anderen Existenz gelebt, und ich glaubte, die tiefen Grotten von Ellora wiederzuerkennen. Allmählich drang ein bläulicher Lichtschein in den Kiosk und ließ dort seltsame Bilder erscheinen. Da glaubte ich mich inmitten eines weiten Beinhauses zu befinden, in das die Weltgeschichte mit blutigen Zügen eingetragen war.“

Von den indischen Höhlentempeln wandert der Ich-Erzähler direkt in mittelalterliche Beinhäuser. Vom Licht in den Tod. Von göttlichen Tempeln in irdische Knochengebilde – eine Erinnerung an die Vergänglichkeit. Es sind Beobachtungen wie diese, die Leser dazu verführen könnten, de Nervals Werk immer und immer wieder zu lesen. Schließlich entdeckt man immer neue Symbole, kleine Rätsel und Geheimnisse. Letztendlich sind es die Geheimnisse der Welt. Nervals „Aurelia“ ist eine Liebeserklärung an das Unerklärliche. Denn im Traum gibt es keinen Anfang und kein Ende; genauso wenig wie in der Sehnsucht, der sich der Ich-Erzähler bis zum letzten Punkt so poetisch hingibt.

Aurelia oder Der Traum und das Leben - © Edition Atelier
© Edition Atelier
Roman

Aurelia oder Der Traum und das Leben

Von Gérard de Nerval
Übersetzt von Ernst W. Junker
Edition Atelier 2023
128 S., geb., € 17,50,–

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